Weltpolitik um 1900: Der Weltpostverein und die Rolle des Deutschen Reichs

 

A Review by Stefanie Lux (Stefanie.Lux@germanistik.uni-giessen.de)

Justus-Liebig-Universität Gießen

 

Wendt, Gunnar. Das Deutsche Reich und der Weltpostverein. Motive, Konzepte und Strategien einer politikfeldspezifischen Außenpolitik 1867–1914. Berlin: Gebr. Mann Verlag 2021. 300 Seiten, 49 EUR. ISBN: 978-3-7861-2872-4.

 

Abstract

Im Zuge aktueller Globalisierungsdebatten und Studien internationaler Verflechtungen der ‚Global Governance‘ möchte Gunnar Wendt in seinem Werk Das Deutsche Reich und der Weltpostverein einen ergebnisoffenen Blick auf die deutsche Außenpolitik im Kontext des Weltpostvereins lenken. Unter Bezugnahme auf historische und politikwissenschaftliche Methoden stellt die Studie einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Rolle des Kaiserreichs im Rahmen der Entwicklung internationaler Weltwirtschaft dar.


Review

Vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gab es diverse internationale Bemühungen zum Ausbau multilateraler Wirtschafts- und Politikbeziehungen. Eine solche aus heutiger Sicht interessante Bemühung war die Gründung des ‚Weltpostvereins‘ 1874, die einen wichtigen Schritt zur Regelung internationaler und weltumspannender Kommunikationsstrukturen darstellte. Sowohl von Historiker_innen als auch in der politikwissenschaftlichen Interdependenzforschung wird deshalb oft diskutiert, ob bei der Gründung und Ausgestaltung des Weltpostvereins als internationale Organisation schon von einer Form „erster Globalisierung“ (S. 9) oder auch ‚Global Governance‘ gesprochen werden kann.


Der Weltpostverein sollte den internationalen Postverkehr einheitlich regeln, dazu gehörten Gebühren für Länderüberschreitungen, Abrechnungen des Portos oder auch die Sicherstellung der weltweiten Zustellung von Briefen. Der Weltpostverein existiert bis heute und ist eine der ältesten internationalen Organisationen. Das Deutsche Reich übernahm bei der Gründung und in der organisatorischen Ausgestaltung des Weltpostvereins eine führende Rolle und nutzte diese für sich, aber die diplomatische Rolle im Weltpostverein des Deutschen Reiches war auch von Vorteil für die anderen beteiligten Partner. Gunnar Wendt legt in seiner zunächst 2019 als Disserationsschrift erschienenen Monografie Das Deutsche Reich und der Weltpostverein den Fokus vor allem auf die Rolle des Deutschen Reichs und die Gründung beziehungsweise den Ausbau des Weltpostvereins. Er begründet dies mit einer Forschungslücke in den bisherigen Untersuchungen des Weltpostvereins und der Rolle des Deutschen Reichs, da diese eher aus historischer Perspektive unternommen wurden und dort vor allem aus politikwissenschaftlicher Sicht auf der Ebene der ‚Global Governance‘ und der ‚Internationalen Beziehungen‘ keine ergebnisoffene und vertiefende Beschäftigung mit beiden Thematiken stattgefunden hat. Wendt zufolge sei der Weltpostverein neben dem Telegraphenverein in der Forschung über internationale Organisationen vernachlässigt worden und die Rolle des Deutschen Reiches vor allem im Hinblick auf Nationalisierung und weniger auf „internationale Verflechtungsprozesse“ (S. 28) hin untersucht worden. Aufgrund von Wendts Forschungsschwerpunkt auf Internationale Beziehungen Ende des 19. Jahrhunderts liegt es nahe, dass Wendt die Rolle des Deutschen Reiches bei der Gründung des Weltpostvereins in seiner Monografie und der Darstellung „des Weltpostvereins als Akteur internationaler Politik“ (S. 9) dahingehend untersucht, ob man hier schon von einer „ersten Globalisierung“ (S. 9) sprechen kann. Die Monografie kann interdisziplinär eingeordnet werden: Als historische Aufarbeitung der Geschehnisse von der Gründung des Weltpostvereins bis zum Ersten Weltkrieg, und ebenso als eine ergebnisoffene politikwissenschaftliche Analyse der Ausgestaltung des Weltpostvereins und der Rolle, die das Deutsche Reich dabei spielte.


Wendts Monografie gliedert sich in vier Teile. Im ersten Teil beschreibt er den Aufstieg Preußen-Deutschlands zur Führungsmacht in den internationalen Postbeziehungen und die Gründung des Weltpostvereins. In diesem Kapitel widmet sich Wendt einer historischen Analyse und Darstellung der Gegebenheiten und Einflüsse einer zunächst binnenstaatlichen Neuausrichtung, die sich später auf internationale Beziehungen ausweitete und ihren Abschluss „in der Gründung des Weltpostvereins“ (S. 36) fand. Hier kann die Frage gestellt werden, ob die Darstellungen einzelstaatlicher fiskal- und Portogebührendiskussionen in diesem Kapitel zu ausführlich geraten sind und die Geschehnisse rund um die Gründung des Weltpostvereins nicht hätten verkürzt dargestellt werden können, während gleichzeitig in Relation dazu der auch in der Überschrift des Kapitels vorgestellte Aufstieg des Deutschen Reichs recht kurz geraten ist.


Im nächsten Teil konzentriert sich Wendt auf die Struktur und Verfahrenspraxis des Weltpostvereins über den Zeitraum der Gründung im Jahr 1874 und der letzten Zusammenkunft des Weltpostkongresses im Jahr 1906 unter der Fragestellung, ob die Annahme einiger Autor_innen, dass bereits im 19. Jahrhundert — vor dem Ersten Weltkrieg — eine „Erosion nationalstaatlicher Macht eingesetzt und […] sich erste Ansätze von ‚Global Governance‘ etabliert“ (S. 83) hätten, stimmen könne. Auch hier geht der Autor erneut auf die Frage nach der Haltung des Deutschen Reichs gegenüber dem Vereinsorgan ein. Diese Ausführungen sind ausgeglichen gehalten und Wendt resümiert am Ende des Kapitels, dass der Weltpostverein zwar internationales Recht darstellte, aber nicht als „internationale Gesetzgebungsinstanz im engeren Sinn“ (S. 120) agierte. So hatten durch ein beispielsweise fehlendes Vetorecht, einzelne Staaten weniger Einflussnahme auf den Verein und die Umsetzung des Regelwerks als andere. Eine ‚Global Governance‘ nach heutiger Definition kann Wendt demnach nicht komplett ausmachen.


Im dritten Teil seiner Monografie untersucht Wendt die Postaußenpolitik des Deutschen Reichs im Kontext des Bismarckschen Imperialismus. Hier stehen der deutsche Kolonialismus und die Expansionen nach Lateinamerika und Australien im Vordergrund. Wendt gelingt es in diesem Kapitel die historische Darstellung mit der politikwissenschaftlichen Analyse anschaulicher als im ersten Kapitel zu verknüpfen. Der deutsche Kolonialismus und die damit einhergehenden ökonomischen Interessen der deutschen Postpolitik sind hier ausführlich und spannend dargelegt. Die Entwicklung von einer „freihändlerisch geprägten Überseepolitik zu einem Programm der forcierten Exportförderung“ (S. 121), die dazu diente, der Wirtschaft neue Wege aus der Überproduktionskrise, und der Einflussnahme der Reichspostverwaltung auf die globale Expansion des Weltpostvereins zu eröffnen, sind hier aufschlussreich dargestellt. Gleichzeitig zeigt das Kapitel ein weiteres Motiv der deutschen Postverwaltung auf: eine Zivilisierungs- und Weltordnungsmission, welche Wendt zeitgeschichtlich einordnet und somit als ein kurzer Exkurs in die Richtung der ‚Colonial Studies‘ angesehen werden kann.


Im vierten Teil der Monografie beschreibt Wendt den Verlauf der Vorreiterrolle des Deutschen Reiches bei der Expansion des Weltpostvereins. Weiter schildert er den Bruch der Politik des Deutschen Reichs mit der Weltpolitik und dessen Hintergründe bis hin zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. Wendt gibt hier einen fundierten Ausblick auf den Postverkehr während des Ersten Weltkrieges und auf dessen Auswirkungen auf die Weltpostordnung in der Nachkriegszeit.


In seiner Schlussbetrachtung weist Wendt zusammenfassend darauf hin, dass das „Hauptziel der deutschen Postaußenpolitik im ausgehenden 19. Jahrhundert“ (S. 251) darin bestand, eine liberale internationale Kommunikationsordnung zu etablieren und ihr zu globaler Geltung zu verhelfen. In dieser Zusammenfassung resümiert Wendt, dass die Intentionen des Deutschen Reichs sowohl nationaler als auch internationaler Natur waren und durchaus „im Einklang“ (S. 257) miteinander zu verstehen sind. Wendt kommt hier zu dem Schluss, dass er die These, dass bereits im 19. Jahrhundert eine Transformation in Richtung einer ‚Global Governance‘ stattgefunden habe, durch die Geschichte des Weltpostvereins nicht bekräftigt sehe. Er weist dabei auf die Souveränität der Staaten als handelnde Subjekte des Weltpostvereins hin und stellt zudem die Bedeutung des Weltpostvereins für die Entwicklung von Verwaltungsunionen heraus.


Die Monografie Das Deutsche Reich und der Weltpostverein möchte einen Beitrag zur Schließung der Forschungslücke leisten und nimmt sich dabei viel vor. In einigen Teilen ist sie in ihrer Beschreibung und Darstellung von historischen Gegebenheiten und Reformen sehr kleinteilig geraten und krankt an manchen Stellen an diesen sehr umfangreichen und detaillierten Schilderungen von Ereignissen und den dazugehörigen Fakten. Eine Kürzung einiger Details hätte das Verständnis der Leser_innen nicht beeinträchtigt. Nichtsdestotrotz ist die Perspektive Wendts im Forschungsfeld der ‚Global Governance‘ interessant, denn Wendt kann durch die breite Untersuchung am Beispiel des Weltpostvereins Thesen widerlegen, deren oberflächliche Betrachtung er eingangs anmerkte. Wendts umfassende Betrachtung der Rolle des Weltpostvereins als internationale Organisation sowie der Rolle des deutschen Reichs auf nicht-nationaler Ebene ist demnach ein spannender Beitrag, der neue Perspektiven der historischen als auch politikwissenschaftlichen Betrachtung dieser Zeit und ihrer multilateralen Beziehungen aufzeigt.

 

English Abstract

World Politics at the Turn of the 19th Century: The Universal Postal Union and the Influence of the German Empire

As part of the debates on globalization and the history of global interdependencies under the concept of ‘global governance,’ Gunnar Wendt’s Das Deutsche Reich und der Weltpostverein attempts to take an unbiased look at German foreign policy in the context of the Universal Postal Union. In reference to historical and political science methods, it represents an important contribution to research on the role of the German Empire as part of the international world economy.

 

 

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