Migration, Gegenwartsliteratur, Osteuropa: Auf der Suche nach einem Begriff 

 

A Review by Marie-Christine Boucher (Marie.C.Boucher@ggk.uni-giessen.de; https://orcid.org/0000-0002-2475-3184)

International PhD Programme Literary and Cultural Studies / Justus Liebig University Giessen

 

Aumüller, Matthias, and Weertje Willms (Hg.). Migration und Gegenwartsliteratur. Der Beitrag von Autorinnen und Autoren osteuropäischer Herkunft zur literarischen Kultur im deutschsprachigen Raum. Leiden, Niederlande: Brill, Wilhelm Fink, 2020. 248 Seiten, 149,00 EUR. ISBN: 978-3-7705-6524-5.

 

Abstract

Dieser interdisziplinäre Sammelband widmet sich der Literatur von auf Deutsch schreibenden Autor_innen mittelost-, südost- und osteuropäischer Herkunft. Er leistet einen wichtigen Beitrag, indem die Problematik der Kategorisierung dieser Literatur von den Herausgebern sowie von den meisten Beiträger_innen thematisiert wird. Neben theoretischen und historischen Aspekten werden Einzelanalysen aus literatur-, sprach- und übersetzungswissenschaftlicher Perspektive durchgeführt.

 

Review

Die deutschsprachige ‚Migrationsliteratur‘ von Autor_innen osteuropäischer Herkunft wird auf dem deutschen Buchmarkt immer präsenter – auch unter Literaturpreisträger_innen ist diese mittlerweile sehr vielfältig vertreten. Dafür hat sich bisher die deutschsprachige bzw. germanistische Literaturwissenschaft relativ wenig mit dem Thema auseinandergesetzt. Die Herausgeber_innen des Sammelbandes sprechen von einer „quantitativen Dominanzverschiebung innerhalb der literarischen Produktion und Rezeption der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ (S. XII), für die es noch einen ‚Nachholbedarf‘ gäbe. In dem Kontext entstand dieser Band zur Gegenwartsliteratur von Autor_innen mittelost-, südost- und osteuropäischer Herkunft. Die Problematik der Kategorisierung dieser Literatur wird von den Herausgebern sowie von den meisten Beiträger_innen thematisiert: Historisch gesehen wurde ‚Migrationsliteratur‘ nach Kriterien geordnet, die sich nicht auf das Werk stützten. Zugleich wird auch in diesem Band auf die ‚reale Migration‘ der Autor_innen als wichtiges Merkmal ihres literarischen Schaffens hingewiesen, was aber den Herausgeber_innen nach keine Begriffspräferenz bekunden soll (S. XI).


Der aus zwölf Beiträgen bestehende Sammelband ist zum größten Teil im Zuge einer Ringvorlesung entstanden, die im Sommersemester 2018 an der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der Universität Regensburg stattgefunden hat. Er ist in zwei Teile strukturiert: Im ersten Teil wenden sich vier Beiträge theoretischen und historischen Aspekten der Migrationsliteratur zu, im zweiten Teil folgen acht Einzelanalysen. Matthias Aumüller, einer der Herausgeber_innen des Sammelbandes, beschäftigt sich noch genauer mit dem Migrationsbegriff. Er stellt fest, dass unter ‚Migrationsliteratur‘ zwei verschiedene Begriffe verstanden werden: Zum einen wird damit der „Gegenstand der Texte“ (S. 15) beschrieben, zum anderen die Biografie der Verfasser_innen. Daher plädiert er für die Verwendung von ‚Interkulturalität‘ als thematischen Oberbegriff. Christian Steltz betont in seinem Beitrag zur Rezeption von türkisch-deutschen Autor_innen, dass Texte der ‚Migrationsliteratur‘ bisher oft undifferenziert dieser Kategorie zugeordnet wurden und somit „nicht angemessen wahrgenommen“ werden (S. 41). Er fragt nach alternativen Klassifikationsmöglichkeiten, die interessante stilistische oder gattungsspezifische Aspekte besser berücksichtigen würden.


Till Dembeck setzt sich mit der Präsenz der Mehrsprachigkeit innerhalb von Texten auseinander, und betrachtet literarische Texte „als Schauplatz sprachlicher Migration“ (S. 47). Er schlägt vor, die „Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit unter dem Schlagwort ‚Mehrsprachigkeitsphilologie‘ neu zu organisieren“ (S. 47) – eine Disziplin, die sich mit „Sprachvielfalt auf allen Ebenen der Textstruktur“ auseinandersetzen soll (S. 60). Nora Isterhelds Beitrag widmet sich der ‚Osterweiterung‘ der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Sie betont die spezifischen Kulturtransfers, die von dieser Literatur geleistet werden. Diese sollen „die Leserschaft für grenzüberschreitende Lebensmodelle [sensibilisieren]“ (S. 84).


Die Einzelanalysen beschäftigen sich mit einer Vielfalt von Themen, die aus literatur-, sprach- und übersetzungswissenschaftlicher Perspektive betrachtet werden. Vier Aufsätze widmen sich sprachlichen und ästhetischen Phänomenen der Migrationsliteratur, wie etwa dem Aspekt der Bewegung als Bestandteil dieser Literatur (Mara Matičević), die Übersetzung von mehrsprachigen Textelementen (Jana-Katharina Mende), die Präsenz der ostkirchlichen Sprache (Eva Maria Hrdinová) und des Codeswitchings in der Erzählung (Marek Nekula). Auch politische und soziale Lektüren sind vertreten: Monika Wolting möchte Texte als politische Literatur lesen, und macht dies am Beispiel von Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt, während Weertje Willms (die als Mitherausgeberin fungiert) Beitrag die matrilinearische Familienstruktur in Julia Rabinowichs Jugendroman Dazwischen: Ich bespricht.


Eva Hausbacher geht der Hypothese nach, dass Migrationsliteratur nicht nur aus einer thematischen Gruppe von Texten handelt, sondern dass die Texte im Sinne einer Poetik der Migration durch spezifische Schreibweisen gekennzeichnet sind wie z. B. „die multiperspektivische Erzählweise, eine Neuverortung in Raum und Zeit [oder] verschiedene Formen von Mehrsprachigkeit“ (S. 111). Das Besondere an der Poetik der Migration sei die Kombination dieser literarischen Formen mit autobiografischen Elementen und Migrationsnarrativen (S. 111). Im Gegensatz stellt Renata Makarska in ihrer Analyse von Matthias Nawrats Der traurige Gast die Frage, ob die Migrationsliteratur ihren Sonderstatus wirklich durch ihre ‚Andersartigkeit‘ verdient, und kommt zu dem Schluss, dass sich „das Migrantische dieser Literatur“ in der Rezeption herausstellt (S. 190).


Obwohl der Titel von „Autorinnen und Autoren osteuropäischer Herkunft“ spricht, folgen die Beiträge noch den disziplinären Konturen der Slawistik; der Fokus liegt hier auf Autor_innen „mit slawischen Sprachwurzeln“ (S. XI), weitere Herkunftssprachen sind nicht vertreten. Diese Feststellung soll nicht als Kritik verstanden werden – nur ist es in diesem Sinne noch relativ eindeutig, dass sich „die Hoffnung“ noch nicht erfüllt hat, „dass sich die Expertise, die etwa die Slawistik und die Translationswissenschaft bieten, ihren Weg in die Germanistik bahnt“ (S. XII–XIII). Auch der Beitrag der Auslandsgermanistik zu diesem Thema müsste nochmals ausdrücklich betont werden, wie Christian Steltz es in seinem Aufsatz zu Recht macht. Tatsächlich wurde Migrationsliteratur von der sogenannten ‚Auslandsgermanistik‘ (ein in sich auch nicht unproblematischer Begriff) bereits intensiv zu einem Zeitpunkt wahrgenommen, als das Thema in der Binnengermanistik noch wenig Resonanz fand.


Dieser Band leistet nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Forschung über die bisher noch zu wenig erforschte Literatur von Autor_innen aus Osteuropa. Durch die ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begrifflichen trägt der Band auch zur noch nicht abgeschlossenen Debatte über die Benennung der inter- bzw. transkulturellen Literatur bei, die als Resultat der Mobilität von Menschen zwischen Sprachen und Kulturen entsteht. Der Band kommt zu keinen endgültigen Schlussfolgerungen, dennoch ist die fortlaufende Diskussion von besonderer Bedeutung, da sie an die tiefgreifenden und potenziell ausgrenzenden Auswirkungen der Kategorien erinnert, die zur Beschreibung (literarischer) Phänomene verwendet werden.

 

English Abstract

Migration, Contemporary Literature, Eastern Europe: In Search of a Term

This interdisciplinary volume is devoted to the literature of authors of Central Eastern, Southeastern, and Eastern European origin writing in German. The editors and most of the contributors address the problem of categorization of this literary phenomena, which makes an important contribution to this field of research. The volume explores theoretical and historical aspects, as well as individual analyses from literary, linguistic, and translation studies perspectives.

 

 

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