Verschweigende Minderheit: Das Gemeindeleben in Moscheen in Deutschland 

 

Eine Rezension von Galina Novikova (Galina.Novikova@gcsc.uni-giessen.de)

International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)

 

Beilschmidt, Theresa: Gelebter Islam. Eine empirische Studie zu DITIB-Moscheegemeinden in Deutschland. Bielefeld: Transcript Verlag, 2015. 270 S., 34, 99 Euro. ISBN 978-3-8376-3288-0

  

Abstract

Während die AutorInnen bisheriger Studien den Islam als Konfliktfeld betrachten und den Fokus ihrer Untersuchungen auf die Debatten rund um die Themen Islam und Integration legen, zielt Theresa Beilschmidt in ihrer Monographie Gelebter Islam: Eine empirische Studie zu DITIB-Moscheegemeinden in Deutschland darauf ab, das religiöse Leben und die Praktiken von DITIB-Moscheegemeindemitglieder zu untersuchen. Das Buch basiert auf einer empirischen Studie in drei Moscheegemeinden in Hessen und bietet ein alternatives Verständnis des Islams „von unten“. Durch die Analyse des empirischen Materials formuliert die Autorin wichtige Erkenntnisse über die Merkmale der islamischen Religiosität in Deutschland.

 

 

Rezension

In den vergangenen Jahren ist der Islam in Deutschland zu einem gut erforschten Gegenstand der Sozialwissenschaften geworden. Gleichzeitig behauptet Theresa Beilschmidt, dass es der muslimischen Religiosität nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, da es in vielen Studien vor allem um den Islam als Konfliktfeld und die radikal-extremistischen Ansichten von MuslimInnen geht.

Im vorliegender Monographie Gelebter Islam. Eine empirische Studie zu DITIB-Moscheegemeinden in Deutschland nimmt Beilschmidt den Islam auf neue Weise in Fokus. Sie konzentriert sich darauf, wie der Islam gelebt wird. Sie nimmt denjenigen Teil der muslimischen Gemeinschaft in den Blick, welcher im Unterschied zu islamischen Extremisten viel weniger bekannt ist, jedoch „die Mehrheit der religiösen und praktizierenden MuslimInnen in Deutschland“ ausmacht (S. 17). In das Zentrum des Buches stellt Beilschmidt die Ergebnisse einer empirischen Studie, die sie im Rahmen ihrer Dissertation im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften am Gießener International Centre for the Study of Culture durchgeführt hat. Im Laufe einer neunmonatigen Feldforschung hat sie am Beispiel von drei Moscheegemeinden in Hessen das Gemeindeleben und die Glaubensausübung unter den Mitgliedern vom Dachverband der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V. (türkisch Diyanet İşleri Türk İslam Birliğ, abk. DITIB) untersucht.

 

Um den Rahmen ihrer Studie zu situieren, gibt Beilschmidt am Anfang ihres Buches nicht nur einen Überblick zum Platz des Islams in der Geschichte Deutschlands ab den 1970er Jahren, sondern beschreibt auch den türkischen Kontext, die türkische Religionsbehörde Diyanet und die Gründung der DITIB sowie, wie die beiden Organisationen miteinander organisatorisch, strukturell und kulturell verbunden sind.

 

Der Großteil des Buches ist der Darstellung der Ergebnisse der empirischen Analyse gewidmet. Die Daten wurden durch die teilnehmende Beobachtung bei Gemeindeaktivitäten und -veranstaltungen sowie durch die narrativ fundierten, leitfadengestützten Interviews mit Moscheemitgliedern und Vorstandsvorsitzenden erhoben. Bei der Auswertung lehnt sich die Autorin an die ergebnisoffene Herangehensweise der Grounded-Theory-Methodologie an.

 

Nach der Beschreibung von drei ausgewählten Moscheegemeinden präsentiert Beilschmidt drei Referenzrahmen von Religiosität, die sie für die Beschreibung des religiösen Lebens unter der DITIB-Moscheegemeindemitglieder als vornehmlich relevant identifiziert. Erstens geht es um Subjektivierung und Verinnerlichung des religiösen Lebens sowie darum, auf welche Weise „das religiöse Leben in den Gemeinden als kollektive Privatsphäre“ geäußert wird (S. 35) (Kap. 4.2). Beilschmidt argumentiert, dass das Leben der MuslimInnen durch „eine subjektivierte Handhabe der eigenen Religiosität“ geprägt ist, wobei die Moscheen die Räume sind, die „ die Verinnerlichung der Religiosität erleichtern oder gar erst ermöglichen“ (S. 204). Zum zentralen Element der islamischen Religiosität wird damit „die gemeinsam erfahrene Religiosität“.

 

Eine weitere Erkenntnis ist die Praxisbezogenheit der muslimischen Religiosität. Religion wird in den Interviews nicht durch die Einhaltung von Regeln, sondern „eher durch die Praxis guter Taten definiert“. Dabei wird der Schwerpunkt auf die Frauen als „Trägerinnen des Gemeindelebens“ gesetzt (S. 206).

 

Als zweiten Referenzrahmen von Religiosität betrachtet Beilschmidt den Aspekt der Transnationalität und Transstaatlichkeit der DITIB-Moscheegemeinden (Kap. 4.3), wobei sie die beiden Begriffe anders als üblich versteht. Sie weist auf die „doppelte integrative Funktion“ der Gemeinden hin. Einerseits versuchen sie, „ihre Mitglieder in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren“; andererseits zielen sie auch auf die Einbindung von MuslimInnen anderer nationaler Herkunft in die Gemeinden (S. 207-210).

 

Die Behandlung der Begriffe von Religion und Kultur sowie ihrer Unterschiede wird als dritter Referenzraum von Religiosität analysiert (Kap. 4.4). Beilschmidt behandelt diesen Themenkomplex im empirischen Material vor allem im Kontext der Kulturalisierung und Dekulturalisierung des Islams. Zudem stellt sie im darauffolgenden Unterkapitel auch die Gründe von Moscheegemeindemitglieder für die Auswahl der DITIB-Moscheen vor (Kap. 4.5). Neben der Zugehörigkeit zum türkischen Staat und familiären Gewohnheiten spielen auch die Wahrnehmung der Moscheen als „soziales Netzwerk“ sowie die Wertschätzung der unterschiedlichen Sichtweisen an den DITIB-Moscheen eine wichtige Rolle. Diese Einsichten führen zur Beilschmidts Fazit, dass die DITIB als „Volksmoschee[n]“ zu bezeichnen wären (S. 215).

 

Zusammenfassend leistet dieses Buch einen wichtigen Beitrag zur einer relativ neuen Richtung in der Soziologie – der Soziologie des Islams. Ein besonderer Wert des Buches liegt darin, dass die Autorin, im Unterschied zu anderen Studien, den Islam „von unten“ betrachtet und statt des starken Religionsbegriffes den Begriff der „gelebten Religion“ verwendet. Sie analysiert den Islam hierbei nicht als eine Quelle von Konflikten und einer Frage der Politik, sondern setzt den Schwerpunkt auf dem Umgang von MuslimInnen mit Religion, ihrer Interpretationen und Integration der Religion im Alltag. Dabei gelingt der Autorin zu zeigen, dass man beim Verständnis des Islams nicht das Modell westlicher Religionen als Muster verwenden sollte.

 

Gleichzeitig zieht Beilschmidt aus ihrer Studie Parallelen zwischen den DITIB-Gemeinden und den christlichen Kirchen (wie z.B. die Bezeichnung der Moschee als „Volkskirche“), die eine weitere Überprüfung anhand größerer, empirischer Materialbestände erforderlich macht. Es wäre die Aufgabe weiterer Forschungsprojekte zu untersuchen, welche Ähnlichkeiten und Unterschiede es zwischen den islamischen und christlichen Gläubigen in ihrem Umgang mit der Religiosität in Deutschland gibt. Es wäre ebenso sinnvoll, auch die DITIB-Moscheegemeinden in den anderen Teilen Deutschlands in die Studie miteinzubeziehen sowie ein Vergleich mit den MuslimInnen aus den anderen Gemeinden zu versuchen. Trotz dieser offenen Fragen ist dieses Buch definitiv für alle zu empfehlen, die einen anderen Einblick in das religiöse Leben der Moscheegemeinden in Deutschland bekommen möchten.

 

 

English Abstract

Lived Islam. An empirical Study of the DITIB mosque communities in Germany

In contrast to the majority of recent works that have tended to analyze Islam as a field of conflict and part of integration debates, the book Gelebter Islam: Eine empirische Studie zu DITIB-Moscheegemeinden in Deutschland by Theresa Beilschmidt focuses on the religious life and religious practices of DITIB mosque community members in Germany. It is based on the in-depth study of three mosque communities and ethnographic (participant) observations in the federal state of Hessen and presents an alternative look at Islam “from below”. By analyzing the empirical material, the author provides valuable perspectives on the main aspects of Muslim religiosity in the German society.

 

 

Copyright 2017, GALINA NOVIKOVA. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).