„Doing Journeys“ – Ein vielversprechendes Konzept

 

A Review by Sarah Maria Noske (Sarah.Noske@gcsc.uni-giessen.de)

Justus-Liebig-Universität Gießen

 

Riettiens, Lilli. Doing Journeys. Transatlantische Reisen von Lateinamerika nach Europa schreiben, 1839–1910. Bielefeld: transcript Verlag, 2021. 276 Seiten, 44 EUR. ISBN: 978-3-8376-5673-2.

 

Abstract

Mit ihrer Monographie legt die Erziehungswissenschaftlerin Lilli Riettiens eine beeindruckende Synthese aus theoretischen Ausführungen und einer empirischen Analyse historischer Reiseberichte vor. Durch die Untersuchung spanischsprachiger Berichte, die über die Atlantiküberfahrt von Lateinamerika nach Europa im 19. Jahrhundert erzählen, behandelt sie – geleitet von der Historischen Praxeologie – Praktiken der Abfahrt, Überfahrt und Ankunft sowie des Schreibens von Reiseberichten.

 

Review

Lilli Riettiens beschäftigt sich in der vorliegenden Monographie mit einem Phänomen, das sowohl auf dem Buchmarkt als auch auf diversen sozialen Medien bis heute beobachtbar ist. Sie untersucht das Schreiben über Reisen, genauer das (Be-)Schreiben von Reisen im 19. Jahrhundert. Im Mittelpunkt ihrer Analyse stehen 14 spanischsprachige Reiseberichte, die in einem Zeitraum von 1839-1910 publiziert wurden und über die Atlantiküberfahrt von Lateinamerika nach Europa berichten. Bei dem Großteil der Autor_innen handelt es sich um weiße, der Oberschicht angehörende, Reisende. Nur zwei Reiseberichte wurden von Frauen verfasst, einer von einem Mann indigener Herkunft. Die Autorin analysiert die in diesen Berichten beschriebenen Praktiken während der Abfahrt, Überfahrt und Ankunft in Europa mittels der Historischen Praxeologie. Riettens verortet ihre Arbeit vor allem an der Schnittstelle von Reise- und Historischer Bildungsforschung.


Die Monographie gliedert sich in einen methodischen und einen empirischen Teil. Im methodischen Abschnitt stellt Riettiens zunächst die Grundannahmen ihrer Studie vor: Sie ist erstens der Auffassung, dass sich die Reisenden erst durch die „Beschreibungen der von ihnen vollzogenen Praktiken […] als Europareisende konstituieren” (S. 28). Zweitens hält sie fest, dass durch die Bewegung auf dem Atlantik nicht nur bestimmte Praktiken bei den Reisenden entstanden sind, sondern dass diese wiederrum den Atlantik als Raum erst durch ihre verschriftlichten Praktiken schufen. Drittens geht sie davon aus, dass die Reiseberichte „als Inszenierungen von (supra-)nationalen Räumen” fungierten (S. 29). Viertens setzt sie schließlich die „konstitutive Funktion der Zuschauenden” sowie Reiseberichte als „Spiegel zeitgenössischer Denk- und Sagbarkeiten” voraus (S. 29–30). Aufbauend auf diesen Grundannahmen verweist sie auf drei große Themen, die ihr zufolge die Reiseberichte durchziehen und entsprechend von ihr analysiert werden: Körper, Raum und Zeit. Körper versteht sie dabei „als Austragungsorte gesellschaftlicher Konstruktions- und Aushandlungsprozesse” (S. 36). Sie erläutert die Bedeutung von Reiseberichten für die Konstituierung von Raum und die Relevanz des Seh- und Geruchssinns wiederum für diese räumlichen Konstituierungsprozesse. Daran anknüpfend öffnet sie verschiedene zeitliche Ebenen beziehungsweise Zeitlichkeiten, die bei den in den Reiseberichten beschriebenen Praktiken zum Tragen kommen. Zugleich versteht sie diese Praktiken im Sinne der Performance-Theorie als inszeniert. Dem „Doing” kommt hierbei eine besondere Rolle zu: Es bringt zum Ausdruck, dass der Fokus auf den dahinterliegenden Prozessen liegt (S. 40).


Der empirische Teil der Arbeit ist der Untersuchung der Reiseberichte gewidmet. Ein erster Teil befasst sich mit den Beschreibungen der Praktiken während Abfahrt, Überfahrt und der Ankunft in Europa. Die Autorin versteht es, die Reiseberichte mit ihren zuvor angestellten, hoch komplexen theoretischen Überlegungen äußerst spannend zu verzahnen und verschiedene Praktiken zu analysieren. Beispielsweise schildert sie, wie Praktiken des Abschiednehmens, etwa das „Nicht-Weinen” beziehungsweise die Fähigkeit, „affektives Verhalten” zu „kontrollieren,” vergeschlechtlicht waren und demzufolge als „doing gender” verstanden werden können (S. 76). Ferner erläutert sie, wie der Atlantik durch die in den Reiseberichten beschriebenen Praktiken nicht nur als Raum geschaffen wurde, sondern auch das Handeln der Menschen beeinflusste. Seekrankheit sei dafür exemplarisch. Darüber hinaus verweist sie auf Beschreibungen der Architektonik des Schiffes und die dadurch vorgegebenen Raum(an-)ordnungen sowie auf die Körper, die sich ihre Räume auf diesem Schiff selbst schufen. So erwähnt sie, wie sich Gruppen durch die Praktik des Lästerns von anderen absetzten. Überhaupt war Sprache ein wichtiges Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Gruppe auf dem Dampfer, wobei Riettiens auch auf Hinweise in den Reiseberichten verweist, wie das nationale „wir“ zu einem „transatlantischen wir“ wurde (S. 107). Je weiter fortgeschritten die Reise, desto langweiliger konnte diese für die Reisenden mitunter werden. Die Sehnsucht nach dem Festland ist eine Gemeinsamkeit der Reiseberichte. Im Abschnitt zur Ankunft beschreibt Riettiens, wie wichtig die Praxis des Informiert-Werdens für die Autor_innen war. Letztlich beschreibt sie auch Quarantäne als Teil der Atlantik-Überfahrt beziehungsweise als eine Art Zwischenraum sowie die Gesundheitstests für die Einreisenden und die Weiterfahrt mit anderen Verkehrsmitteln.


Im zweiten Teil ihrer empirischen Analyse geht es um Praktiken des Schreibens wie Beobachten, Notieren oder Redigieren. Sie stellt unter Anderem dar, dass die Verfasser_innen mögliche zukünftige Adressat_innen und deren Erwartungen bereits bedachten. Des Weiteren ordnet sie die Entstehung der Reiseberichte in den zeitgenössischen Prozess der Nationalstaatswerdung in Lateinamerika ein. Andere Zusammenhänge, etwa die Geschichte der Dampfschifffahrt, des Reisens oder die Biographien der Reisenden, werden nur vereinzelt erwähnt.


Zuletzt verweist sie darauf, dass sich das von ihr entworfene Konzept für die Historische Bildungsforschung fruchtbar machen ließe. Doch steckt viel mehr in dem Konzept als nur das, was der Autorin vorschwebt: Mit „Doing Journeys“ veranschaulicht sie die Vereinbarkeit von methodologisch-theoretischen Überlegungen aus einer Vielzahl an Disziplinen mit historischen Materialien, in diesem Fall mit Reiseberichten. Damit bietet sie der Geschichtswissenschaft – und nicht nur der Historischen Bildungsforschung – eine Anleitung für den theoretisch fundierten und methodologisch klugen Umgang mit Reiseberichten.


Zusammenfassend erscheint die Monographie zwar etwas überfrachtet mit Theorie, dies mindert die Aussagekraft allerdings nicht. So verbindet Riettiens die theoretischen Debatten aus verschiedenen Disziplinen gerade im empirischen Abschnitt ihrer Arbeit gelungen mit den historischen Materialien und macht ihre theoretischen Überlegungen sowie das Konzept des „Doing Journeys“ auch für andere historische Disziplinen anschlussfähig. Gerade ihre Ausführungen zu den Schreibpraktiken des Reiseberichts zeigen, wie gewinnbringend die Verwendung von kulturwissenschaftlichen Konzepten für die historisch-kritische Quellenanalyse sein kann.

 

English Abstract

“Doing Journeys” – A Promising Concept?

The educationalist Lilli Riettiens presents an impressive synthesis of theoretical explanations and empirical analysis of historical travelogues with her monograph. Through the analysis of Spanish travelogues that deal with the Atlantic crossings from Latin America to Europe in the nineteenth century, she explores – guided by historical praxeology – practices of departure, the crossing and arrival as well as the writing of the travelogues.

 

 

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