Von Exil oder Shoah zu „Exil und Shoah“ – Über die notwendige Synthese zweier Begriffe
Eine Rezension von Anna Corsten (Anna.Corsten@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen)
Bannasch, Bettina; Schreckenberger, Helga; Steinweis, Alan E.; Bischoff, Doerte; Claus-Dieter Krohn und Lutz Winkler (Hg.): Exil und Shoah. München: edition text + kritik (Exilforschung, 34), 2016. 407 S., 38 Euro. ISBN: 978-3-86916-550-9.
Abstract
Mit dem Sammelband Exil und Shoah, ediert von Bettina Bannasch, Helga Schreckenberger, Alan E. Steinweis, Doerte Bischoff, Claus-Dieter Krohn und Lutz Winkler, gelingt den Herausgeber*innen eine Synthese zwischen Exil- und Shoahforschung. Der interdisziplinär angelegte Band zeigt auf anschauliche Art und Weise Wechselwirkungen zwischen persönlicher Erfahrung deutschsprachiger Exilant*innen und ihrem wissenschaftlichen und literarischen Wirken auf, das oft der Bewältigung der erlittenen Traumata diente. Durch perspektivische Wechsel zwischen allgemeiner Darstellung der Exilsituation in Wissenschaft, Literatur und Kunst sowie konkreten Beispielen von Figuren aus diesen Bereichen, gelingt es einerseits an aktuelle Forschungsdebatten anzuknüpfen. Außerdem widmen sich die Herausgeber*innen bislang wenig beachteten Fragen, wie dem Einfluss, den die Exilerfahrung und das Wissen um die Shoah auf die literarischen und wissenschaftlichen Werke der Emigrant*innen nahmen.
Rezension
In kaum einer anderen Person wird die Verbindung von Exil und Shoah so deutlich wie in der Raul Hilbergs. Bereits wenige Jahre nach Kriegsende begann der Politikwissenschaftler seine Untersuchung zum bürokratischen Ablauf der „Vernichtung der europäischen Juden“, die heute als Pionierwerk der Holocaustforschung gilt. Als Jugendlicher vom Nationalsozialismus ins Exil gezwungen, beeinflusste nicht zuletzt das persönliche Schicksal seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Shoah. Obwohl sich ein Zusammenhang zwischen Biographie und Werk auch bei vielen anderen Exilant*innen zeigt, haben sich mit der Exil- und Shoahforschung zwei Bereiche herausgebildet, die oft nur wenige Überschneidungspunkte besitzen.
Diese Divergenz kommt dadurch zustande, dass in beiden Forschungsrichtungen lange verschiedene Schwerpunkte gesetzt wurden. Während sich die Exilforschung auf das Leben und Wirken von Emigrant*innen konzentrierte, hat sich die Shoahforschung auf den nationalsozialistischen Genozid an den Juden fokussiert. (Vgl. S. 9) Die Herausgeber*innen haben es sich vor diesem Hintergrund zur Aufgabe gemacht, beide Forschungsfelder zusammenzuführen und einen interdisziplinären Austausch zu ermöglichen. (Vgl. S. 14) Eine Synthese soll dazu beitragen, die künstlerische, literarische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Shoah vor dem Hintergrund des Exils zu erklären. Der Sammelband ist aus der gleichnamigen Tagung hervorgegangen, die im Oktober 2015 am Center for Holocaust Studies an der University of Vermont, Burlington, stattfand.
Der erste Teil des Sammelbandes behandelt die Reaktionen der Exilant*innen auf den Genozid an den europäischen Juden. Primus-Heinz Kucher stellt einführend dar, wie das Wissen um die Shoah von Exilant*innen in den USA aufgenommen, verbreitet und verarbeitet wurde. Ein Leitmotiv des Bandes findet sich in Kuchers Feststellung, dass sich unter den Exilant*innen eine „Zeugenschaft“ ( S. 35) entwickelt habe, die sich dazu verpflichtet sah, das Schweigen um die Shoah zu brechen. Dies wird mit Hilfe der folgenden Beiträge zu Einzelschicksalen exilierter Schriftsteller*innen veranschaulicht.
Besonders lesenswert ist der zweite Abschnitt des Sammelbandes, der die Ursprünge verschiedener klassischer (sozial-)wissenschaftlicher Theorien zu Antisemitismus, Nationalsozialismus und Shoah betrachtet. René Schlott trägt mit seinem Aufsatz entscheidend dazu bei, die bestehende Forschungslücke zu Raul Hilberg zu schließen. Indem er das Leben Hilbergs anhand der Begriffe „Heimat“, „Exil“ und „Diaspora“ darstellt, zeigt er präzise auf, wie eng das Wirken Hilbergs als Holocaustforscher mit seiner persönlichen Erfahrung als Verfolgter verknüpft ist. Gemeinsam mit den nachfolgenden Beiträgen stellt diese Rubrik damit nicht nur einen Bezug zum ersten Themenbereich her, sondern auch zu der Intention des Sammelbandes: Wechselwirkungen zwischen dem persönlichen Schicksal als Verfolgte des Nationalsozialismus, der Motivation zur Aufarbeitung der Shoah und dem individuellen Verständnis des Exils werden explizit gemacht.
Dieser Argumentationsstrang wird auch im dritten Teil beibehalten, hier allerdings bezogen auf exilierte Schriftsteller*innen. Sophia Dafinger rekonstruiert die Wechselwirkungen zwischen dem Wissen um die Shoah, der eigenen Identität und dem literarischen Wirken am Beispiel Leon Feuchtwangers. Zusätzlich werden die Rolle des Überlebens und die damit einhergehenden Schuldgefühle der Exilant*innen gegenüber den Toten thematisiert. Helga Schreckenberger arbeitet anhand der Lyrik österreichischer Exilant*innen sehr anschaulich heraus, wie gespalten viele dieser Dichter*innen zwischen Weiterleben in der Realität und ihren Verpflichtungen gegenüber den Toten waren. Die Lyrik bildete für viele ein Mittel im Kampf gegen das Vergessen. (Vgl. S. 212)
Das vierte und letzte Themenfeld beschäftigt sich mit der Verarbeitung von Exil und Shoah in Schauspiel, Film und Comic. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Frage, wie die Erfahrung im Herkunfts- und Aufnahmeland auf die Arbeit der Exilant*innen wirkte, aber auch, wie das Wissen um die politischen Ereignisse der 1930er und 1940er Jahre das eigene Exilverständnis beeinflusst hat. Etwas unglücklich gewählt ist dabei die Überschrift der Rubrik, die einen klaren Bezug zu den vorherigen Abschnitten vermissen lässt. Erst die Beiträge erklären die Stellung des vierten Teils im Gesamtkontext des Bandes.
Profitiert hätte der Band von einer abschließenden Zusammenfassung der wesentlichen Erkenntnisse der vielfältigen und detaillierten Aufsätze des Sammelbandes sowie einem Ausblick auf Anknüpfungspunkte für ähnliche Forschungsprojekte. Um zu verstehen, in welcher Forschungstradition sich der Sammelband einreiht, wäre daneben eine knappe Reflexion der Verwendung der Begriffe „Exil“ und „Shoah“ hilfreich gewesen, die in beiden Forschungsgebieten diskutiert wird.
Durch die mit Hilfe einzelner Fallbeispiele herausgearbeiteten systematischen Zusammenhänge zwischen Exil und Shoah trägt der vorliegende Band zu einer Synthese der beiden Disziplinen und zu einer wesentlichen Erweiterung des Forschungsstandes bei. Überaus anschaulich sind dabei die vielfältigen Darstellungen über einzelne Personen, Exilnetzwerke und Bereiche, in denen die Exilant*innen wirkten. Indem das Sammelwerk in vielen Beiträgen erstmals die Überschneidungspunkte von Exil- und Shoahforschung facettenreich ans Licht bringt, stellt es sowohl für kultur- und geschichtswissenschaftlich orientierte Forscher*innen aber auch für interessierte Leser*innen aus anderen Fachgebieten eine überaus anregende und aufschlussreiche Lektüre dar.
English Abstract
From Exile or Shoah to “Exile and Shoah” – About a Necessary Synthesis of Two Terms
The volume Exile und Shoah, edited by Bettina Bannasch, Helga Schreckenberger, Alan E. Steinweis, Doerte Bischoff, Claus-Dieter Krohn, and Lutz Winkler provides the reader with a synthesis of research on exile and the study of the Shoah. With the aid of an interdisciplinary approach the volume shows the interplay between the personal experiences of German-speaking exiles and their scientific and literary work that often helped them cope with traumas they suffered. By changing between general illustrations of the exile and concrete examples of biographies, the edition not only covers the current state of research but also offers new questions and approaches in the study of exile and Shoah.
Copyright 2017, ANNA CORSTEN. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).