Der Traum vom Totalen Kino entspringt einer literarischen Idee

 

A Review by Tobias Bieseke (tobias.bieseke@fh-dortmund.de)

Kunsthochschule für Medien Köln / Fachhochschule Dortmund

 

Janker, Karin. Der Traum vom Totalen Kino. Wie Literatur Filmgeschichte schrieb. Bielefeld: transcript Verlag, 2019. 448 Seiten, 49,99 EUR. ISBN: 978-3-8376-4756-3.


Abstract

Karin Janker analysiert in ihrer medientheoretischen Promotionsschrift die duale Beeinflussung von Literatur und dem frühen Kino des 20. Jahrhunderts, mit der naiven Vorstellung eines Mediums, das sich ununterscheidbar von der Realität machen möchte. Hierfür zieht sie sechs zeitgleiche Romane heran, die als Präfigurativ die Entwicklung des Kinos beeinflussten. Aktuellen Rückbezug erhält sie durch die Konnexion zu virtuellen Realitäten, zu denen sie Potentiale und Risiken sichtbar macht.

 

Review

Karin Janker untersucht in ihrem 2019 erscheinen Buch Der Traum vom Totalen Kino sprachlich eindrucksvoll sechs Romane von 1886 – 1940, die in einem dynamischen Übertragungsverhältnis und Wechselbezügen mit der Kinematografie stehen. Die Präfiguration der medialen Überwindung der Realität wird formal geleitet von der Struktur des Filmes L’Arrivée d’un Train à La Chiotat der Gebrüder Lumière, als erste Imagination eines Totalmediums, welches versucht die Grenze zum Realraum zu überwinden. Jedoch liegt die Illusion nicht in dem „(Ü)berrollen der Sinne“ (S. 53) durch den technischen Apparat, sondern in dem Bedürfnis, das Narrativ im Realen wiedererkennen zu wollen.


Im ersten Abschnitt analysierte sie den Roman L’Ève future (1886) von Auguste de Villiers, dem Janker die „hellseherische Erfindung des Kinos“ (S.75) zuspricht. Das Kino als „narzisstische Selbstspiegelung des männlichen Blicks“ (S. 76), bei dem ein Zauberspiegel per „Transsubstantiation“ die weibliche Androidin Hadalay zum Leben erweckt. Der abwesende, referenzlose Blick Hadalays ist eine Leerstelle in der misogynen Oberfläche des medialen Abbildes selbst und wird zum Schriftzeichen, zur Metalepse der Sprache (vgl. S. 89ff.). Dies ist das Indiz, dass der Text als Vorbote, wenn nicht sogar als Konstrukteur des kinematografischen Realitätsentwurfs zu sehen sein könnte (vgl. S. 114ff.). In diesem Kontext analysiert sie weiter Jules Vernes Le Château des Carpathes (1892), in dem ebenfalls eine Frau in ein mediales Abbild transferiert wird und dabei stirbt. Die letzten lebenden Momente der Sängerin Stilla bleiben als audiovisuelles Lichtbild konserviert und wirken wie ein Magnet auf die Protagonisten. Das Château selbst wird zum cinématographe, welcher Kamera, Kopiergerät und Projektor zugleich ist (von Verne ergänzt um auditive Inhalte). Janker erkennt in den Ausführungen des Erzählers die Trennung von Text und Apparat, bei dem der Text die Täuschung der Protagonisten zwar thematisiert, aber die objektive Gewissheit einer Illusion sichtbar macht (vgl. S. 161). Die Narration wird nicht von dem Apparat übernommen, sondern mit Bildern beschrieben. Janker erkennt die Änderung in der literarischen Narration als Paradigmenwechsel, dessen Wendepunkt durch die vorangegangenen Werke gebahnt wurde (vgl. S. 167).


Im zweiten Abschnitt untersucht sie Luigi Pirandellos Quaderni di Serafino Gubbio operatore (1916/25), in diesem bereiten die achronologisch geordneten Tagebucheinträge des Kameramanns Gubbio dramatisch einen Eifersuchtsmord vor, der am Ende selbst mit der Kamera eingefangen wird. Janker sieht in der januskopfartigen Sichtweise des Kameramanns, der Filmemacher und Zuschauer zugleich ist, die erkenntnistheoretische Dimension der reproduzierten Realität (S. 175). Realität und determiniertes Abbild beginnen sich reziprok zu bedingen und werden somit zu einer Vorstufe des Totalen Kinos. Das Filmbild wird zu einer „Metonymie für das Leben“ (S. 199) und damit zu einer höchst fruchtbaren Symbiose zwischen Roman und Film. Dieses Ko-Verhältnis verläuft nach dem Motiv: „der Text beleuchtet den Film, der Film beleuchtet den Text“ (S. 214).


Dies wird zusammen mit Salomo Friedlaenders / Mynonas Graue Magie (1922) angeführt und im umgekehrten Sinne als ein „filmisches Schreiben“ (S.225) bezeichnet. Der Protagonist (?) Morvitius, der sich auf der Suche nach einem dreidimensionalen, audiovisuellen Tastkinos befindet, trägt eine Schärpe, die es ihm ermöglicht ohne Zeitverlust im Raum zu reisen, wodurch die Montage selber zur Schreibform wird. Die Geschichte gipfelt in der Aufhebung der Realität durch die Kameraleute, wodurch sich „... die Heterotopie vom Totalen Kino verwirklicht [...] und die Realität vom Kino tatsächlich ununterscheidbar wird...“ so Janker (S. 225). Damit wächst der Film als Imaginationsmythos in die literarische Narration ein. Die Verkehrung von Sprache und Film sieht Janker schon in der Umdrehung des Namens des Autoren Mynona, welcher als Palindrom anonym bedeutet. Durch die Maskerade, dass Fiktion mit Realität verwechselt wird (vice versa), ist eine Präfiguration zum Totalen Kino geschaffen (Vgl. S. 272).


Im letzten Abschnitt, wird Aldous Huxleys Brave New World (1932), bei dem kein externes Medium eines Abbildes die subjektive Realität modifiziert, sondern die Droge Soma, analysiert. Die totalitäre Welt in dem Roman definiert sich durch seine Differenz zu dem in der Wildnis geborenen John, der ohne Soma aufgewachsen ist. Das Massenmedium Kino wird hier in kritische Beziehung zum Individuum gesetzt (S. 302). Dies definiert die zentrale Kritik Huxleys, dass die Kunst zum Massenmedium verdirbt, welches zur Folge hat, dass der Soma-Rausch genau wie das Totale Kino nicht mehr von der Realität zu differenzieren ist. An dem Höhepunkt des Werkes stirbt der Protagonist John im Beisein der Kameras und die Realität wird zur Inszenierung. Durch die Ununterscheidbarkeit zwischen Realität und Totalem Kino, so Janker, wird die Utopie ad absurdum getrieben, da „der Roman das Narrativ des Totalen Kinos auf diese ihm inhärente Aporie zutreibt, durchkreuzt er es mit dem ihm selbst innewohnenden Paradox.“ (S. 321). Als letztes wird Adolfo Bioy´s Casares’ La invención de Morel (1940) angeführt, in dem der namenlose Erzähler unter determinierten medialen Phantasmagorien auf einer Insel lebt und dort sein Tagebuch, welches gleichzeitig sein Testament ist, verfasst. Verliebt in Faustine überschreitet er die Grenze in den Tod, indem er ihre determinierten Handlungen erwiderte und durch den Wechsel in sein mediales Abbild mit ihr in der „semana eterna“ ewig existieren kann. Das literarische Werk wird durch seine Eigenschaft als Tagebuch selber zu einem Artefakt, an dessen Beschaffenheit Janker die Stärke des Textes gegenüber dem Totalen Kino herausarbeitet (S. 361). Der Körper des Erzählers, als Verfasser des Textes wird als „vernarbter, schmutziger, aber lebendiger Körper zur Metapher des Textes, dessen Schmerzen erst enden, wenn dieser selbst in den Film eintritt“ (S. 361). Damit wird die Schrift als Textkörper Zeuge „für das Selbstopfer des Autors, das beweist, dass die Literatur das Überlegene, weil lebendige Medium ist“ (S. 362). Janker kontextualisiert kritisch die Absorption der Protagonisten durch das Medium. Sie werden in die Virtualität aufgesogen was als determinierte Metalepse die Aufgabe ihres diegetischen Daseins zur Folge hat (vgl. S. 379).


Der Traum vom Totalen Kino ist eine Fokussierung auf die Konstruktion von Totalen Realitäten die in ihrer Urform eine literarische Herkunft haben. Die Forschung Jankers zeigt, dass die Sprache an sich virtuell ist, also in einem prä- oder postrealen Zustand besteht und die konkrete Ausformung in Bildern diesen Vorstellungsraum verlässt. Die Virtuelle Realität ist ein Oxymoron, dessen Widerspruch gleichzeitig die Quelle für ungewohnte Erzählkonzepte generiert. Die angeführten literarischen Werke, die das Kino bzw. den medialen Weg der Narration vorbereitet haben, sind sehr gut recherchiert und inspirierend aufbereitet. Die scharfen Analysen Jankers helfen den wachsenden Medienapparat zu verstehen, dessen Risiken zu erwägen und die Träume und Wünsche der Produzenten mit den tatsächlichen Auswirkungen zu vergleichen und historisch nachzuvollziehen. Der Blick zurück in die Literaturgeschichte als Konstrukteur der Mediengeschichte ist tiefgreifend, scharf und erfrischend Abwechslungsreich. So lesen sich die Querverbindungen zwischen den Werken spannend wie auf einer Spurensuche, bei der nach und nach ein Muster sichtbar wird.  Die dichte Arbeit an den originalen Textkörpern ist die Stärke dieser Arbeit, bestimmt aber deren Schwächen. Die Texte werden alle in Originalsprache zitiert, welche sehr gute Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch Kenntnisse voraussetzen. Wobei ausschließlich das Italienische und Spanische teilweise in den Fußnoten übersetzt wird. Dennoch bieten die Originaltexte einiges mehr an Atmosphäre und sprachlicher Ästhetik. Die Textkörper an sich transportieren in ihrem eigenen medialen Abbild den präzisen Ausdruck ihrer Autoren. Der Traum vom Totalen Kino ist sehr zu empfehlen für Medien-, Literatur- und Kunstwissenschaftler_innen, mit Schwerpunkt auf Virtuelle Realität, Ästhetik, Sprache, Kinematographie und generell Philosophie. Der Blick bleibt nicht an der Oberfläche, sondern dringt tiefer in die Materie der Medienproduktion vor. 

 

English Abstract

The Dream of Total Cinema Arises from a Literary Idea

In her doctoral thesis on media theory, Karin Janker analyzes the dual influence of literature and the early cinema of the 20th century with the naive notion of a medium that wants to make itself indistinguishable from reality. For this purpose, she draws on six contemporaneous novels that influenced the development of cinema as prefiguratives. The connection to virtual realities, fowhose potentials and risks she makes visible, provides a current reference.


 

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