Ein Spagat zwischen wissenschaftlicher Abhandlung und Jubiläumsschrift
A Review by Benjamin Roers (Benjamin.Roers@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Giessen)
Maier-Wolthausen, Clemens. Hauptstadt der Tiere. Die Geschichte des ältesten deutschen Zoos. Berlin: Ch. Links, 2019. 280 Seiten, 30.00 EUR. ISBN: 978-3-96289-040-7.
Abstract
Im Juli 2019 feierte der Berliner Zoologische Garten sein 175. Jubiläum. In diesem Zuge wurde der Historiker Clemens Maier-Wolthausen damit beauftragt, die bewegte Geschichte dieses ältesten deutschen Zoos von den Anfängen in den 1840er Jahren bis in die jüngste Vergangenheit zu schreiben. Die Arbeit versteht sich nicht nur als Jubiläumsschrift, sondern auch als historiografische Abhandlung und ist insbesondere um eine Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Zoos bemüht. Diesem Anspruch wird das Buch – abgesehen von ein paar Abstrichen – gerecht.
Review
Der 280 Seiten starke und reichbebilderte Band verspricht, nicht nur spannend geschrieben, sondern auch wissenschaftlich fundiert zu sein und ist um historische Transparenz bemüht. Denn „nur, wer sich der eigenen Geschichte in all ihren Facetten bewusst ist, kann auch die Zukunft sinnvoll gestalten“ (S. 261). Obwohl die Geschichte vor allem von Menschen handele, sollen die Tiere als „Hauptdarsteller des Zoos“ (S. 15) nicht zu kurz kommen. Zudem konstatiert der Autor, dass es eine transparente Zoogeschichte nicht versäumen darf, die genuin bürgerliche Institution Zoo auch als ein Instrument unterschiedlicher Machtinteressen zu historisieren: als Ort der Herrschaftsrepräsentation, kolonialpolitischer Propaganda (z. B. durch Völkerschauen) – und nicht zuletzt auch als Ort nationalsozialistischer Aggression.
Den Vor- bzw. Grußworten und der Einleitung folgt eine chronologische – aber nicht näher theoretisierte – Stadtgeschichte des Berliner Zoos. Die zwölf Hauptkapitel fußen auf einem umfangreichen Quellenfundus und widmen sich jeweils einer „Ära in der Berliner Zoogeschichte“ (S. 15). Unterlegt ist die Erzählung durch einen ereignisgeschichtlichen Zeitstrahl, der das Buch in der Fußzeile durchzieht. So sehen wir z. B., dass der Eröffnung des Zoos im August 1844 nicht nur der Aufstand schlesischer Weber, sondern auch ein Attentat auf Friedrich Wilhelm IV. vorausgingen.
Anschaulich wird geschildert, wie sich das ambitionierte, aber anfangs an Mitteln knappe bürgerliche Zoo-Projekt bis in die 1880er Jahre „an die Spitze der Vergnügungseinrichtungen“ (S. 47) der Reichshauptstadt Berlin und der deutschen zoologischen Gärten bewegte. Zäsuren und Brüche wie der Bankrott des Zoos im Zuge des Ersten Weltkriegs werden ebenso herausgearbeitet, wie seine „Indienststellung […] im Zeichen des Hakenkreuzes“ (S. 97). Das entsprechende Kapitel ist mit Abstand das umfangreichste des Bandes. Hier zeigt sich, wie eifrig Direktor Lutz Heck und Mitglieder des Aufsichtsrates ab Mitte 1933 damit beschäftigt waren, den Zoo zügig „den neuen Verhältnissen“ (S. 97) anzupassen. Detailliert schildert Maier-Wolthausen die willige und bis 1937 vollständig durchgesetzte Nazifizierung des Aufsichtsrates sowie dessen Rolle als Profiteur bei der Enteignung jüdischer Aktienbesitzer. Genauer geht der Autor auch auf die engen Beziehungen Lutz Hecks zur nationalsozialistischen Elite (allen voran Hermann Göring), seine vielfältigen Verstrickungen in die Rassen- und Expansionspolitik des Regimes sowie den Einsatz von Zwangsarbeiter_innen im Zoo ein. Mit der Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit begann der Zoo erst um die Jahrtausendwende und unter öffentlichem Druck. Maier-Wolthausen war in diesem Rahmen als Kurator der 2016 eröffneten Dauerausstellung zu Geschichte des Zoos mit besonderer Berücksichtigung des Nationalsozialismus tätig.
Ein weiterer Aspekt der Jubiläumsschrift ist der Wiederaufbau des im Zuge des Krieges zerstörten Zoos unter Katharina Heinroth, der ersten Zoodirektorin Deutschlands. Interessant ist auch das von Konkurrenz und Spannungen bestimmte Verhältnis des Berliner Zoos zum 1955 eröffneten Tierpark in Ost-Berlin im Kontext von Kaltem Krieg und deutscher Vereinigung.
Die Haupterzählung ergänzen vier über den Band verteilte Exkurse. Darin geht es etwa um Haltungspraktiken und -bedingungen von Zootieren. Hier wird deutlich, welcher organisatorische und architektonische Aufwand nötig war/ist, um Tiere z. B. an der Flucht zu hindern und somit die räumliche und soziale Ordnung im Zoo aufrechtzuerhalten. Dass auch die Beziehungen zwischen Besucher_innen und Zootieren nicht unproblematisch waren, zeigen gezielte Tierquälereien sowie Tiere, die infolge von (versehentlich) falscher Fütterung durch Besucher_innen, z. B. mit Gegenständen, starben.
Ein weiterer Exkurs thematisiert die Geschichte der rassistischen Völkerschauen, deren stereotype Inszenierungen von vermeintlich „unterentwickelte[n] ethnische[n] Gruppen“ (S. 69) zwischen 1878–1931 die Sensationslust des Berliner Zoopublikums befriedigten. Schließlich geht es auch um die Frage, wie Tiere überhaupt in den Zoo kamen. Wesentliche Bezugsquelle für ‚exotische‘ Tiere bis ins 20. Jahrhundert waren Tierhändler wie Carl Hagenbeck, die in den Kolonien in Afrika, Asien und Südamerika unzählige Tiere fingen, um sie in Europa und nach Nordamerika zu verkaufen: „Dass dabei für den Fang von Jungtieren deren Muttertiere oder gar ganze Herden getötet wurden, war bekannt, aber nebensächlich“ (S. 212). Diese Art der Tierbeschaffung änderte sich erst ab 1973 durch das Washingtoner Artenschutzabkommen. Fortan wurde der Berliner Zootierbestand durch intensive und groß angelegte Zuchtprogramme sichergestellt, die den „Erhalt der Vielseitigkeit des Erbguts in den jeweiligen Zoopopulationen“ (S. 213) gewährleisten sollen.
Eine Historisierung dieses nicht nur in der jüngsten Zoogeschichte zentralen Zuchtgedankens und seiner biologistischen Implikationen bleibt allerdings aus. Dasselbe gilt im Allgemeinen für die zoologische Wissensproduktion und die damit verbundenen Körperbilder, Normierungen und Ordnungen. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ließe sich zudem kritisch einwenden, dass Zoos auch heute noch als wirksamer „Ausdruck (post-)kolonialer oder anderweitig chauvinistischer Machtkonstellationen“ (May, Christina Katharina: Geschichte des Zoos. In: Borgards, Roland (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart: Metzler, 2016, S. 183–194, hier S. 188) funktionieren. Dass der Band derlei Positionen nicht näher thematisiert, mag an der Doppelrolle einer wissenschaftlichen Publikation liegen, die gleichzeitig Jubiläumschrift ist. Generell macht es den Eindruck, als verliere die Erzählung, je weiter sie sich in Richtung Gegenwart bewegt, an kritischer Distanz. Besonders die letzten Absätze sind eher Imagetext als wissenschaftliches Fazit: „Heute stehen alle Aktionäre, Berlinerinnen und Berliner aller Bezirke sowie Landespolitik fest hinter der ‚Artenviefalt‘ der Berliner Tiergärten. Diese ist historisch gewachsen und einzigartig in Deutschland“ (S. 261).
Davon abgesehen ist das Buch eine gelungene, anschauliche und lebendige Erzählung über 175 Jahre Zoogeschichte, die Komplexitäten nicht aus dem Blick verliert. Der Spagat zwischen Jubiläumsschrift und wissenschaftlicher Abhandlung ist über weite Teile erfolgreich – und wo das nicht der Fall ist, eröffnet die Arbeit wertvolle Anknüpfungspunkte für zukünftige Forschungen.
English Abstract
A Balancing Act between Anniversary Publication and Scientific Study
In
July 2019 the Berlin Zoological Garden celebrated its 175th anniversary.
Historian Clemens Maier-Wolthausen was commissioned to write the eventful
history of the oldest German zoo from its beginnings in the 1840s to the
recent past. The work is not only an anniversary publication, but also
aims to be a historiographical treatise and is particularly concerned with
reappraising the zoo's National Socialist past. The book fulfills this
claim – apart from a few short-comings.
Copyright 2020, BENJAMIN ROERS. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).