In den Augen der Betrachtenden! Visuelle Darstellungen und Wahrnehmungen der Realität
A Review by Richard Vargas (Richard.d.vargas-lopez@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Giessen)
Hattendorf, Claudia und Lisa Beißwanger (Hg.). Augenzeugenschaft als Konzept. Konstruktionen von Wirklichkeit in Kunst und visueller Kultur seit 1800. Bielefeld: Transcript, 2019. 270 Seiten, 39,99 EUR. ISBN: 978-3-8376-4608-5.
Abstract
In
diesem Band geht es um die Untersuchung des Konzepts ‚Augenzeugenschaft‘
in der Kunst und in der visuellen Kultur seit 1800. Zu diesem Zweck wird
das Konzept verständlich und leicht nachvollziehbar mithilfe von
interdisziplinären Fallbeispielen erläutert. Es wird analysiert, wie
Wirklichkeit und Wahrnehmung sich in künstlerischen und
nicht-künstlerischen Artefakten äußern. Dabei stellte sich insbesondere
heraus, dass die Perspektive der Bildproduzent_innen, der Betrachter_innen
und der bildlichen Darstellung für die Konstruktionen von Realität
signifikant sind.
Review
Obwohl das Konzept ‚Augenzeugenschaft‘ im Rechtskontext bzw. in Gerichtsverfahren weit verbreitet ist, ist es in anderen Bereichen, wie z.B. in der Kunst und in der visuellen Kultur bislang nicht bekannt. Wie der vorliegende Sammelband zeigt, kann dieses Konzept jedoch erklären, wie Realität und Kunst miteinander zusammenhängen. Deswegen ist die Auseinandersetzung mit diesem Konzept wichtig, es ist ein komplexer und mehrdimensionaler Begriff, und verschiedene Faktoren sind daran beteiligt. Bildproduzent_innen und Betrachter_innen sowie die Bilder selbst spielen eine entscheidende Rolle (vgl. S. 17) für ein besseres Verständnis dieses vielschichtigen Konzepts. Andererseits stellen Bilder nicht ausschließlich etwas dar, sondern spiegeln auch "Ideen, Sichtweisen, Mentalitäten und Praktiken sowie […] materiale Kultur der Vergangenheit" (S. 16) wider. Sobald ein_e Betrachter_in Bilder, Porträts, Illustrationen, und Fotos sowie bildliche Darstellungen rezipiert, kommt das Konzept ‚Augenzeugenschaft‘, hier wörtlich verstanden, zum Tragen. In diesem Sammelband geht es aber nicht nur um Augenzeugenschaft, sondern auch um weitere in der Kunst und visuellen Kultur bedeutende Themenkomplexe wie Authentizität, Glaubwürdigkeit, Wahrnehmung, Authentifizierungsstrategien, Augenzeugeneffekte, Evidenzerzeugungen, Interpretation und Inszenierung. Claudia Hattendorfs Einleitung mit wichtigen Konzepten, Definitionen, Forschungspositionen und der Einführung der Textbeiträge kontextualisiert den Inhalt des Werks.
Der Band handelt von der Rolle, die die Augenzeugenschaft in Kunst und visueller Kultur zwischen ca. 1800 und heute spielt. Vierzehn Textbeiträge untersuchen die Frage mittels einschlägiger und interdisziplinärer Fallbespiele von traditionellen Bildmedien, künstlerischen und nicht-künstlerischen Praktiken, Bilddispositiven, Installationen sowie Kunstinstitutionen und -literatur. Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Produktion, Werk und Medium, und Rezeption. Im ersten Abschnitt geht es um wichtige Techniken der Malerei, mit der Künstler_innen Bilder produzieren, um authentisches Erleben zu inszenieren. Katastrophenbilder von Natur und Krieg wie Jörg Trempler und Clemens Klöckner diskutieren, oder Bilder von Erfahrungen in sozialen Konflikten, die Anne-Kathrin Hinz thematisiert, spielen eine wichtige Rolle bei der Dokumentation sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart des Zustands nach den Katastrophen und Konflikten.
Im zweiten Teil geht es um Werk und Medium. Hierbei liegt der Fokus besonders auf dem Einsatz unkonventioneller Medien, die genutzt werden, um Augenzeugenschaft und Realität visuell zu repräsentieren. Fünf Textbeiträge handeln vom Gebrauch von Spiegelbildern, Fernsehgeräten, radiologischen Bildern oder Überwachungskameras in Kunstwerken, um alternative Visionen der Weltwahrnehmung zu kreieren. Sigrid Ruby nutzt Spiegel und Spiegelbilder in Literatur und Kunst als ‚Metamedien der Visualität‘, indem sie Multiperspektivität, Voyeurismus und Selbsterfahrung sowie reflexive Augenzeugenschaft widerspiegeln. Magdalena Nieslony erörtert, wie neo-avantgardistischer Künstler, wie z.B. Richard Serra und Robert Rauschenberg, das Fernsehen als Thema für ihre Werke genutzt haben, um das Publikum zum Nachdenken über Authentizität, Echtheit und Unmittelbarkeit von Informations- und Wissensvermittlung anzuregen.
Der dritte und letzte Teil des Bandes beschäftigt sich mit dem Thema Rezeption. Hier ist hervorzuheben, dass der/die Betrachter_in, besonders in Kunstausstellungen, eine äußerst wichtige Rolle für die Konstruktionen von Wirklichkeit, Evidenzerzeugung, Inszenierung oder Erfahrung der Augenzeugenschaft spielen kann. Renata Schellenberg beschäftigt sich mit witnessing texts, d.h. mit schriftlichen Kommentaren von Besuchern von Kunstausstellungen in Deutschland im 18. Jahrhundert. Lars Blunck diskutiert die direkte Publikumsansprache als Effekt von Augenzeugenschaft und Authentifizierung in Fernsehserien und Filmen. Die Originalversion des Filmes Funny Games (1997) oder die Serie House of Cards (2013) sind dafür beispielhaft. Semjon Aron Driling und Lisa Beißwanger sprechen die Beteiligung der Betrachter_innen als performative Erfahrung in Gemäldegalerie und Kunstausstellungen an. Julia Reichs Text geht darum, wie sich das Konzept der Augenzeugenschaft durch das Zusammenspiel von Medium und Betrachter_in manifestiert.
In Anbetracht der aktuellen Kontroversen um Glaubwürdigkeit und Augenzeugenschaft, besonders in sozialen Medien, ist Augenzeugenschaft als Konzept: Konstruktionen von Wirklichkeit in Kunst und visueller Kultur äußerst zeitgemäß. So ist es von großer Bedeutung für den Wirklichkeitseffekt, den Einsatz von Authentifizierungsstrategien, Evidenzerzeugungen und Augenzeugeneffekten zu analysieren. Dem Band gelingt es, das Konzept der ‚Augenzeugenschaft‘, das dem Authentizitätsanspruch in verschiedenen künstlerischen und nicht-künstlerischen Artefakten zugrunde liegt, aus drei verschiedenen Perspektiven auszuarbeiten: der Perspektive der Bildproduzent_innen, der Betrachter_innen und der bildlichen Darstellung. Die Argumentationen und Analysen der unterschiedlichen Beiträge mitsamt einer Reihe stimulierender Beispiele vom 18. bis ins 21. Jahrhundert sind gut durchdacht und schlüssig und verleihen dem Sammelband seine gewünschte Interdisziplinarität in Kunst und visueller Kultur.
English Abstract
In
the Eye of the Beholder! Visual Representations and Perceptions of
Reality
The volume deals with the investigation of the concept of 'eyewitness' in art and visual culture since 1800. For this purpose, the concept is explained in an understandable way using interdisciplinary case studies. It analyzes how reality and perception manifest in artistic and non-artistic artifacts. The case studies presented in the volume suggest that the perspective of the producer of the image, the viewer, and the visual representation are significant for the construction of reality.
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