Kunst-Philosophie. Ein Band über Ludwig Wittgenstein und Eduardo Paolozzi

 

A Review by Fabian Goppelsröder (fabian.goppelsroeder@gmail.com)

Freie Universität Berlin

 

Mantoan, Diego and Luigi Perissinotto (eds.): Paolozzi and Wittgenstein. The Artist and the Philosopher: London: Palgrave Macmillan, 2019. 222 Seiten, 83 EUR. ISBN 978-3-030-15845-3.

 

Abstract

Der im Sommer 2019 erschienene Band Paolozzi and Wittgenstein. The Artist and the Philosopher widmet sich der Bedeutung Ludwig Wittgensteins für das Werk des britischen Pop-Art-Künstlers Eduardo Paolozzi. Tatsächlich ist die intensive und grundsätzliche Auseinandersetzung Paolozzis mit dem Werk und Leben des Wiener Philosophen in der Diskussion über das Verhältnis von Philosophie und Kunst noch wenig berücksichtigt. Das zu ändern ist die dezidierte Absicht des von Diego Mantoan und Luigi Perissinotto herausgegebenen Buches. Und auch wenn die Qualität der Beiträge schwankt, gelingt es, Paolozzi als genuin künstlerischen Interpreten Wittgensteins sichtbar werden zu lassen, der mit seiner Kunst auch einen frischen Blick auf den Philosophen möglich macht.

 

Review

Auf den ersten Blick scheint Ludwig Wittgenstein als Denker ohne besondere Affinität zu den Künsten. Der aus Wien stammende und in Cambridge ausgebildete Philosoph gilt mit seinem frühen „Tractatus logico-philosophicus“ wie mit seinen späten „Philosophischen Untersuchungen“ vor allem als Referenz der analytischen Sprachphilosophie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen, als ein Vater des sogenannten „linguistic turn“; über Kunst hat er philosophisch kaum geschrieben. Mehr noch: im Tractatus nennt er Ästhetik etwas, „wovon man nicht sprechen kann“, worüber man „zu schweigen“ habe. Spätestens allerdings seitdem sich ab den 1960er Jahren Künstler wie Joseph Kosuth und Mel Bochner von Wittgensteins Person und Denken inspirieren ließen, ist klar, dass dieser erste Eindruck trügt. Wittgenstein hat auch in den Künsten markante Spuren hinterlassen. Der von Diego Mantoan und Luigi Perissinotto herausgegebene Band „Paolozzi and Wittgenstein. The Artist and the Philosopher“ diskutiert seine bisher nur wenig prominent besprochene Bedeutung für das Werk des britischen Pop-Art-Künstlers Eduardo Paolozzi. In insgesamt zwölf Beiträgen wird die Beziehung aus unterschiedlichen disziplinären Warten untersucht. Tatsächlich zeigt sich so eine vielschichtige Anverwandlung der Wittgensteinschen Philosophie in Paolozzis Oeuvre, welche die simple Aufgabenverteilung, wie sie sie noch der Untertitel des Buches suggeriert, implizit problematisiert: Wer genau ist hier der Künstler? Wer der Philosoph? Die vermeintlich klare Differenz löst sich ein Stück weit auf. Und so erscheint am Ende nicht allein Paolozzis Werk, sondern auch Wittgensteins eigenes Denken in neuem Licht.


Die 1964/1965 entstandene Serie von Siebdrucken „As Is When“ ist das offensichtlichste Ergebnis von Paolozzis intensiver Auseinandersetzung mit Leben und Werk Wittgensteins. In ihr verbinden sich visuelle und textuelle Zitate zu einer künstlerischen Hommage an den Wiener Philosophen. In einem Interview mit Richard Hamilton kurz nach Fertigstellung der Serie pointiert Paolozzi zudem: „Some people need, perhaps, Greenberg. I need Wittgenstein.“ Kaum überraschend wird der Satz auch im Band von Mantoan und Perissinotto immer wieder als Beleg für Paolozzis Wittgensteinbegeisterung zitiert. Und doch: erst wenn man hinter ihn zurückgeht, seinen Hintergrund beleuchtet, wird seine Brisanz deutlich. Sich Wittgenstein statt Greenberg zur philosophischen Grundierung des eigenen künstlerischen Tuns zu wählen, ist in den 1960ern keine beliebige Entscheidung. Sie ist ein programmatisches Bekenntnis gegen die wichtigste theoretische Instanz der zeitgenössischen Kunstszene. Alessandro Del Puppo betont in seinem Beitrag, dass „quoting Wittgenstein and addressing clear provability meant rejecting [meine Hervorhebung, FG] Greenberg and the subjectivity of taste“ (S. 52). Mehr noch: Im Bekenntnis für Wittgenstein steckt auch die Überzeugung, dass die von Greenberg propagierte Trennung und Hierarchie zwischen Avantgarde und Kitsch nicht haltbar ist, wie Luigi Perissinotto in seinem Artikel zeigt (S. 77); eine Ablehnung des elitären Kunstgedankens, in der sich eine Wittgenstein und Paolozzi gemeine philosophische Einstellung gegenüber Welt und Wirklichkeit ausdrückt. Der Vielfalt unterschiedlicher Konstellationen und Erscheinungsweisen der (Alltags-)Dinge korrespondiert die Vielfalt der Sichtweisen, mit welchen wir die Welt betrachten. Philosophie und Kunst sind nicht zuletzt auch Übung im permanenten Wechsel zwischen den verschiedenen Blickwinkeln und Perspektiven.


In diesem Sinne entspricht Paolozzis künstlerische Praxis dann auch der Praxis Wittgensteins als Philosoph. Diego Mantoan zitiert Wittgensteins Maxime, dass die Arbeit des Philosophen im Aufsammeln von Hinweisen zu einem bestimmten Zweck bestehe („assembling reminders for a particular purpose“, S. 125). Die Collage als Technik der Werkentwicklung (vgl. insbesondere den Beitrag Maren Wienigks) spielt nicht zufällig bei beiden eine wichtige Rolle. Wittgenstein baut keine Denksysteme, er schreibt, insbesondere im Spätwerk, Bemerkungen und kurze Paragraphen, die er ständig neu zusammenstellt; und Paolozzi schafft statt eines die Blicke des Betrachters auf vorgegebenen Bahnen lenkenden Kunstwerks das 1972 erstmals vorgestellte „Krazy Kat Arkive“, eine Art Wunderkammer der Populärkultur, in der das Fehlen jeder Systematik Anstoß geben soll, Altbekanntes immer wieder mit neuen Augen zu betrachten (S. 132). In der ständigen Provokation dessen, was Wittgenstein ‚Aspektwechsel‘ genannt hat, liegt die eigentliche Wesensverwandtschaft (man könnte auch sagen ‚Familienähnlichkeit‘) beider.


Die interessantesten Beiträge im vorliegenden Band sind so auch die, welche die Präsenz Wittgensteins gerade in den nicht offensichtlich durch ihn bestimmten Werken Paolozzis suchen. Wenn Rachel Strutton in das Jahrzehnt vor „As Is When“ zurückgeht und entlang der Analyse von Collagen und Skulpturen Paolozzis Nähe zu Wittgensteins Vorstellung des Sehens als „tangled impression“, als „dynamic and subjective process“ (S. 101) schon in den 1950ern aufweist; wenn Stefanie Stallschus entlang des filmischen Oeuvres Paolozzis „aesthetics of intermediality“ (S. 122) als Konsequenz seiner intensiven Wittgensteinlektüre nachzeichnet; oder auch, wenn Michael Lüthy seine Untersuchung von Wittgensteins Aspektwechsel dazu benutzt, um die Qualität des „fitting“, des Passens als Kriterium einer weniger auf Repräsentation und Inhalt als auf das Zusammenspiel der Teile gerichteten Kunstbeschreibung vorzuschlagen (S. 158). In diesen Beiträgen wird der von den Herausgebern selbst formulierte Anspruch, Paolozzi „as a true reader or interpreter of Wittgenstein, pursuing his theories with artistic means“ (S. 4) zu verstehen, in seinen Konsequenzen wirklich ahnbar.


Auch wenn dem Band die Einheitlichkeit und Stringenz einer monographischen Darstellung fehlen und die Qualität der Beiträge auf inhaltlicher wie sprachlicher Ebene schwankt (Probleme, die sich bei einem Konferenzband wohl nie ganz vermeiden lassen), so bleibt schlussendlich doch der starke Eindruck, dass am Verhältnis Paolozzi – Wittgenstein das Verhältnis von Kunst und Philosophie im Ganzen auf neue, produktive Weise untersucht wird. „The artist does not do philosophy. Yet, her/his work can share with philosophy more than we would be willing to believe“, schreibt Davide Dal Sasso (S. 190) und liegt damit sicherlich nicht falsch. So wie auch Wittgenstein kein Paolozzi war und mit ihm doch mehr gemein hat, als man zunächst vermuten möchte.

 

English Abstract

Art-Philosophy. A book on Ludwig Wittgenstein and Eduardo Paolozzi

Paolozzi and Wittgenstein. The Artist and the Philosopher, published in summer 2019, is dedicated to the significance of Ludwig Wittgenstein for the work of the British Pop Art artist Eduardo Paolozzi. So far, Paolozzi's intensive and fundamental examination of the work and life of the Viennese philosopher is still little present in the reflection on the relationship between philosophy and art. To change this is the firm intention of the book’s editors, Diego Mantoan and Luigi Perissinotto. And even if the quality of the contributions fluctuates, they do manage to make Paolozzi visible as a genuine artistic interpreter of Wittgenstein and his art the angle under which the philosopher, too, appears in a different light.

 

 

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