Gabe und Tausch zwischen den Disziplinen
A Review by Lukas Helbich (lukashelbich@gmx.de)
Justus-Liebig-Universität Gießen
Bies, Michael; Sebastian Giacovelli und Andreas Langenohl (Hrgs.). Gabe und Tausch. Zeitlichkeit, Aisthetik, Ästhetik. 1. Auflage. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018. 288 Seiten, 29,50 Euro. ISBN 978-3-86525-599-0.
Abstract
Die vorliegende Rezension widmet sich dem lesenswerten Sammelband Gabe und Tausch: Zeitlichkeit, Aisthetik, Ästhetik, herausgegeben von Michael Bies, Sebastian Giacovelli und Andreas Langenohl. Der Band kartiert das interdisziplinäre Spannungsfeld, in dem sich Überlegungen zum Zusammenhang von Gabe und Tausch abspielen können. Im Vordergrund steht die Ausdifferenzierung der beiden Begriffe unter den Gesichtspunkten von Zeitlichkeit und Ästhetik.
Review
Die Publikationen der letzten Jahre zum genuin interdisziplinären Thema „Gabe“ sind äußerst divers; allein schon, weil sie Inspiration aus so unterschiedlichen Quellen schöpfen wie den Texten von Marcel Mauss und Jacques Derrida, mit denen die Gabe zu einem wichtigen Begriff der Sozial- und Kulturwissenschaften avancierte. An diese beiden Autoren und den vielfältigen Diskurs zu gabentheoretischen Überlegungen schließt auch der rezensierte Sammelband an. Dessen Beiträge behandeln die Gabe unter anderem als „Theorieparadigma“ (S. 5) der Soziologie, als „Theorem“ der Kunstwissenschaft (S. 105) und als eine bestimmte Form sozialer „Logik“ (S. 23), als „Fundament einer Sozialtheorie“ (S. 47), als „Modus“ künstlerischer Praxis, als von bestimmten Figuren verkörperlichte „Figuration“ (S. 128f.) und als analytische „Heuristik“ (S. 167, 245). Der Band tut dies unter drei Gesichtspunkten. Im Vordergrund steht die Diskussion und kritische Ausdifferenzierung der Unterscheidung von Gabe und Tausch, die die Herausgeber als nicht binär verstanden wissen wollen (S. 9f.). Diese vollzieht sich wiederum anhand zweier Fokuskonzepte, der Zeitlichkeit und der Ästhetik. Alle Beiträge im Buch verorten sich in diesem in der Einleitung umrissenen Spannungsfeld, fokussieren sich jedoch zumeist auf einen der Eckpunkte dieses Feldes.
Einen konzisen Einstieg in die Sozialtheorien der Gabe bieten die Beiträge des ersten Kapitels. Frank Adloff sieht in der Gabenlogik eine alternative Antwort auf die Schlüsselfrage der Soziologie „wie soziale Ordnung überhaupt möglich ist“ (S. 23), wohingegen Andreas Langenohl diese Frage versuchsweise auf „strikt ökonomische Prozesse“ (S. 48) eng führt. Während bei Adloff das „Risiko“ der ausbleibenden Gegengabe das entscheidende Merkmal für die Gabenlogik ist (S. 31), die nichtäquivalente asymmetrische Interaktionen (vorwiegend unter Anwesenden) auszeichnet, resultiert die konstitutive Asymmetrie der Gabenbeziehung für Langenohl erst aus der „Frist“ (S. 47, 51f.) zwischen Gabe und Gegengabe (gerade unter Abwesenden). Nichtsdestoweniger beschreibt die Gabenlogik für beide Autoren Umgangsweisen mit Situationen und Zwischenzeiten, in denen weder zwingende Normen, oder „vorgängige Überzeugungen und Weltbilder“ (S. 46), noch gegenseitiges Vertrauen oder konvergierende Interessen mit Sicherheit vorausgesetzt werden können (S. 30, 45, 50).
Die Beiträge des folgenden Kapitels eint zum einen das Interesse an der Gabe als soziale oder vor-soziale Bedingung des Sozialen, zum anderen an der sozialen und vor-sozialen, d.h. materiellen, psychischen, körperlichen und affektiven Bedingtheit oder Unbedingtheit (Autonomie, Souveränität) der Gabe: Wovon hängt die Gabe ab und was hängt von ihr ab? Vor allem aber demonstrieren die Aufsätze die Gabe als fruchtbares Konzept für die Bestellung so unterschiedlicher Felder wie die phänomenologische Ethik und ihre Anerkennungsfragen (Irene Breuer), die politische Philosophie und ihre Legitimations- und Herrschaftsfragen (Reinhold Görling) sowie die Kunstwissenschaft und ihre Fragen nach Produktions- und Rezeptionsästhetik (Ingrid Hentschel). Das gelingt, ohne dass das Konzept verwässert oder zu Metaphern zerfranst.
Das dritte Kapitel versammelt Fallstudien, die das Auftreten konkreter Gabenphänomene in europäischen Kontexten des 19. und vor allem 20. Jahrhunderts erhellen. Sie alle unterstreichen den epistemologischen Reiz eines ausgeweiteten Gabenkonzeptes, der in einem Perspektivwechsel auf bekannte, mit Gaben bisher jedoch eher lose assoziierte Zusammenhänge liegt. Eine zusätzliche Umkehr der Blickrichtung nimmt Lena Kugler vor, die „die Gabe vom Nehmen her denk[t]“ (S. 130). In ihrem Text über die Figur des Schnorrers im Judentum analysiert sie die „(zeit-)ökonomischen Register[…]“ (ebd.) verschiedener literatur- und theoriegeschichtlicher Figurationen des Nehmens in dieser Sozialfigur. Es wird deutlich, dass die Semantik des Schnorrers je nach Epoche, Textform und Autor_innen variiert, jedoch stets die politisch-ökonomische Situation der Juden in Europa reflektiert. Die beiden anderen Beiträge des Kapitels behandeln gabenartige Publikationspraktiken. So beschäftigt sich Sabine Zubarik mit dem Herausgeberkommentar als giftige Gabe, die darauf abzielt, den anderen oder zumindest dessen Ruf zu ruinieren (S. 159). Inken Tegtmeyers Aufsatz über Sammelbandpraktiken positioniert sich explizit als Selbstreflexion des vorliegenden Sammelbandes mithilfe einer „gabentheoretischen Heuristik“ (S. 167).
Die Autor_innen des vierten Kapitels wenden sich aus im besten Sinne heterodoxen Blickwinkeln ökonomischen Phänomenen im engeren Sinne zu: Arbeitszeitregulierung, Wirtschaftswachstum, Derivate. Alle vier Beiträge führen die Performativität ökonomischen Wissens vor und verdeutlichen den außerordentlichen Nutzen aisthetischer Lesarten ökonomischer Zusammenhänge. Anna Echterhölter geht es in ihrer Kulturgeschichte der deutschen Kolonialökonomie um die Zerstörung einer Messordnung, etwa zum Zweck der gewaltsamen Etablierung einer vermeintlich neutralen ökonomischen Rationalität. Dafür etabliert die Autorin am Beispiel der Einführung standardisierter Arbeits(zeit)-Infrastrukturen in zuvor von Eigenzeiten der Gabe strukturierte wirtschaftliche Zusammenhänge den äußert produktiven Begriff des „Metroklasmus“ (S. 212). Katrin Hirte erörtert im Detail, wie die orthodoxe Ökonomik aufschlussreiche theoretische Überlegungen von Joseph Schumpeter und Rosa Luxemburg unsichtbar gemacht hat, weil diese nicht von Tausch, Äquivalenz und Symmetrie, sondern von asymmetrischen, temporalisierten Prozessen ausgehen (S. 233ff.). Sebastian Giacovelli rekapituliert in seinem „heuristische[n] Modell zur Untersuchung von Verträgen“ (S. 245) bekannte rechtssoziologische Einsichten unter ästhetischen und performativen Gesichtspunkten. Luzide entfaltet schließlich Benjamin Wilhelm in seinem bemerkenswert trittsicher zwischen Soziologie und Kulturwissenschaft argumentierenden Text die Bedeutung von „Aisthesis als Wahrnehmbarmachung in einem performativen Sinne“ (S. 273) für die politische Wirkmächtigkeit finanzökonomischen Wissens auf Wirtschaft und Gesellschaft.
Dem Band gelingt es, die Unterscheidung von Gabe und Tausch facettenreich auszuarbeiten. In vielen Beiträgen kommt die temporale Dimension der untersuchten Gegenstände leider etwas zu kurz. Die gegenseitige Konstitutivität von Gabenpraktiken und Zeitregimen wird infolgedessen zwar treffend benannt und umrissen aber nicht weit genug ausgearbeitet. Der Band bereichert die sozial- und kulturwissenschaftliche Erforschung disziplinär-ökonomischer Gaben- und Tauschphänomene um den interdisziplinären Blickwinkel der Ästhetik. Er bietet vielseitige Anschlussmöglichkeiten, auch in Richtung einer im Band immer wieder angedeuteten aber nie ausgeführten Dimension (S. 85f., 110f., 199): der Ästhetik der Räumlichkeit im Nachdenken über Gabe und Tausch.
English Abstract
Gift
and Exchange between Disciplines
This
review concerns the volume Gabe und Tausch: Zeitlichkeit, Aisthetik,
Ästhetik, a book worth reading. The volume maps the
interdisciplinary field of research into the relationship between gift and
exchange. The focus lies on the differentiation and interrelation of those
concepts with special regard to their temporality and aesthetics.
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