Ein neuer Blick auf das vergleichende Sehen?

 

A Review by Fatma Kargin (fatma.kargin@gcsc.uni-giessen.de)

Justus-Liebig-Universität Gießen


Bruhn, Matthias und Gerhard Scholtz (Hrsg.). Der Vergleichende Blick. Formanalyse in Natur- und Kulturwissenschaften. Berlin: Reimer, 2017. 245 Seiten, 29,90 Euro. ISBN 978-3-496-01578-9.

 

Abstract

Wenn es um den ‚Vergleich‘ geht, gibt es verschiedene Meinungen zu seiner Funktion und Signifikanz. Zugegebenermaßen ist er alltäglich und stellt zugleich eine effiziente Vorgehensweise dar, um Bedeutungen und Zusammenhänge zu konstruieren. Dieser Sammelband betrachtet daher den Vergleich bezüglich seiner Form, Funktion und Anwendung an der Schnittstelle zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. Die Sammlung der Beiträge geht aus einer langjährigen Kooperation der Arbeitsgruppe „Vergleichende Zoologie“ und der Forschungsabteilung „Das Technische Bild“ an der Humboldt-Universität zu Berlin hervor. Betrachtet wird das Vergleichen als Grundlage der wissenschaftlichen Analyse, um eine fachübergreifende Methodik und Formulierungen für praktische Anwendungen des Vergleichs in den Kultur-, Kunst- und Naturwissenschaften auszuloten.

 

Review

Der vorliegende Sammelband kann als die Veranschaulichung einer langjährigen und interdisziplinären Kooperation betrachtet werden und verspricht hierdurch einen neuen Blick auf das vergleichende Sehen. Angefangen mit der Tagung Form als Prinzip wurde die Kooperation im Rahmen des Berliner Exzellenzclusters Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor als Basisprojekt Attention & Form formalisiert (S. 7). Der aus der Tagung Attention & Form entstandene Sammelband liefert hier zehn Beiträge, die die Form, Anwendung und Funktion des Vergleichs in diversen Disziplinen diskutieren.


Als Ausgangspunkt liefert Matthias Bruhn seine deskriptiven Gegenüberstellungen von kunsthistorischen Bildern, in denen er die Wechselwirkungen, den Funktionswandel und die Differenzierungen jenseits der überlieferten Interpretationsmöglichkeiten hinterfragt. Sein Beitrag „Gegenüberstellungen. Funktionswandel des Vergleichenden Sehens“ betrachtet das vergleichende Sehen als eine Kernmethode in der Erkenntnisproduktion und verlangt deswegen die Systematisierung und die Weiterentwicklung der Methode (S. 35). Einerseits geben seine Bemerkungen einen reifen und einleuchtenden Blick auf das kunst- und kulturwissenschaftliche Vergleichen, andererseits fungieren sie als Überleitung zu den folgenden interdisziplinären Ansätzen. Im Beitrag „Anmerkungen zur Rolle des Vergleichs in der Morphologie“ bietet Thomas Stach eine methodologische Lektüre zur Anwendung des Vergleichs in den Naturwissenschaften an. Erläutert wird das Bedürfnis „nach Bildern als Ergänzung, Erläuterung und Klärung“ (S. 43) in den Beschreibungen von komplexen Untersuchungen. Zudem vermittelt der Autor das Entstehen der Bildrhetorik und veranschaulicht die gängige Implementierung des Vergleichs in der Identifizierung von Homologien in der Morphologie.


Der zweite Teil befasst sich überwiegend mit den Fragen nach Identifikation sowohl als „Gleichsetzung von Körper und Bild als auch als Problem der technischen Erkennbarkeit“ (S. 8). In ihrem Beitrag „Bildidentifikation“ hinterfragt Hilja Hoevenberg, inwieweit sich die Identifikation auf die Identität und ihre realitätsgetreue Abbildung durch Foto- und Videografie bezieht (S. 90). In den Analysen wird das Gesicht und seine Abbildung hinsichtlich des morphologischen Vergleichs thematisiert. Auf diese Weise formuliert Hoevenberg Fragen bezüglich der Vergleichbarkeit der Form sowie der Formkonstanz im Kontext der Erkennung und Wiedererkennung von Personen. Eine ähnliche Methodik zeigt sich im nächsten Beitrag „Die Grenzen der Verlässlichkeit. Methoden des visuellen Abgleichs im Rahmen der polizeilichen Personenerkennung um 1900“ von Franziska Kunze. Die Autorin gibt einen geschichtlichen Überblick des Vergleichs in der erkennungsdienstlichen Arbeit, in der die Fotografien, Daktyloskopie und die Methodenpluralität als zweifelsfreies Identifikationsmittel fungieren.


Einige informative Beiträge zur Form, Funktion und Anwendung des Vergleichs sind erst im dritten Teil zu finden. Anna L. Roethe und Matthias Planitzer setzen sich zum Beispiel mit den Algorithmen der Bild- und Blickdiagnose bzw. der Bildinterpretation in der Kunstgeschichte und in der Radiologie auseinander. Thematisiert wird die Übertragbarkeit der klinischen Blickdiagnose auf die Bildbetrachtung in der Medizin. Somit bilden die Autor_innen ihre Methodologie des Vergleichs durch die Bildbefunde von „Lungendiagnostik mittels Röntgen und Computertomografie im 20. und 21. Jahrhundert“ (S. 149). Mit dem nächsten Beitrag „Der Hummer des Aristoteles. Das Bild im Text“ von Alexander Fürst von Lieven, Marcel Humar und Gerhard Scholz erhalten die Leser_innen den Zugang zu einer Methode, die die komplexen Beziehungen zwischen „realem Objekt, Beobachtung, Darstellung und Beschreibung in den überlieferten Texten widerspiegelt“ (S. 176). Obwohl die Umsetzung des Vergleichs in den zoologischen Texten abwegig scheint, wird das vergleichende Sehen in diesem Kontext als ein „Versuch zur Hypothesenbildung“ (S. 205) mittels der realitätsgetreuen Abbildungen und Abbildungsformen des aristotelischen Hummers theoretisiert. Mit dem letzten Beitrag „Kunst des Vergleichs. Warburg, Wittgensteins und die Serendipity morphologischer Reihen“ bieten Marco Brusotti und Sabine Mainberger eine exemplarische Vorgehensweise des Vergleichens auf einer kulturwissenschaftlichen Ebene an. In ihrem Ansatz werden die methodologischen Probleme des Mnemosyne-Projekts von Aby Warburg angesichts Wittgensteins Überlegungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der goetheschen Morphologie (S. 211) hinterfragt. Hier wird ein vergleichender Blick auf Wittgensteins philosophische Untersuchungen, etwa zur ‚Übersichtlichkeit‘, und auf Warburgs Bilderreihen geworfen. Die durch Wittgenstein gelesenen Bilderreihen heben sowohl Warburgs unvereinbaren Ansprüche in seinen Atlastafeln als auch die Zielähnlichkeit von Wittgensteins Untersuchungen hervor, die hier als „Ermöglichung des Aspekt-wechsel“ (S. 236) thematisiert sind.


Diese letzten drei Beiträge spielen eine ausschlaggebende Rolle im Gesamtbild des Bandes und verleihen ihn seine gewünschte Interdisziplinarität. Von Kriminalistik bis hin zur Biologie zeigt der Sammelband lesenswerte und stimulierende Zusammenhänge des vergleichenden Blicks und gibt einen breiten Überblick über die Funktion und Verwendung des Vergleichs in unterschiedlichen Disziplinen. Darüber hinaus macht er gleichzeitig neugierig auf potenziell neue Perspektiven auf eine fachübergreifende Methodik des Vergleichs, die anschließend aus dieser Kooperation der Humboldt-Universität entstehen könnte.

 

English Abstract

A New Comparative View?

When it comes to ‘comparison,’ which is something from everyday life and represents at the same time an efficient way to construct meanings and relationships, we all have certain ideas about its functioning and significance. Therefore, this anthology takes a closer look at comparison in relation to its form, function, and implementation at the interface between cultural studies and natural sciences. The collection of contributions represents a tangible result of a long-standing cooperation between the research group of ‘Comparative Zoology’ and the research division ‘The Technical Image’ at Humboldt University, Berlin. ‘Comparison’ or ‘comparative visual analysis’ is taken as the fundamental approach for scientific examinations in exploring interdisciplinary methodologies and formulating applicable procedures of comparison in cultural and artistic discussions as well as in natural sciences.

 

 

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