Bericht zur Tagung „Sakralisierung des Selbst“ des Mainzer Graduiertennachwuchskollegs „Ethnographien des Selbst in der Gegenwart“
Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Mai 16 - 17, 2019
Ein Bericht von Kirsten Flöter; Lisa Keil; Kathrin Lohse; Lucas Sand; Annabelle Schülein (kirsten.floeter@googlemail.com; l-keil@web.de; kalohse@uni-mainz.de; lsand@students.uni-mainz.de; aschue@uni-mainz.de)
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Die erste Jahrestagung des Mainzer Graduiertenkollegs „Ethnographien des Selbst in der Gegenwart“ widmete sich dem Phänomen der Sakralisierung des Selbst. Ausgangspunkt des Kollegs ist die Beobachtung, dass gegenwärtige Formierungen des Selbst mit den Herausforderungen des digitalen Zeitalters und veränderten Möglichkeiten der Selbstinszenierung in sozialen Medien eng verbunden sind. Gegenwärtig zu beobachtende Lebensstile sowie Ich-Performanzen sind über Kulte und Rituale strukturiert und zeugen von einer Ästhetisierung und Kultivierung der Existenz. Sie können insofern sakralisierende Züge annehmen, als sie mit einer Entgrenzung von Heiligem und Profanem, von Religiösem und Säkularem in Verbindung zu stehen scheinen. Ein Tagungsband ist in Vorbereitung.
Den Auftakt machte HUBERT KNOBLAUCH (Berlin) mit einem Vortrag über „Populäre Religion“. Ausgehend von aktuellen empirischen Befunden vertrat der Soziologe die Auffassung, dass die These von einem Schwinden der Religion, im Sinne einer Säkularisierung, so nicht mehr haltbar sei. Stattdessen könne man von einer Transformation bzw. Refiguration des Religiösen sprechen. Ihren Ausdruck finde sie im Spektrum gegenwärtiger Spiritualität. Das Spirituelle stelle hierbei kein Nischenphänomen dar, sondern sei populär und tief in der Alltagskultur verankert, sodass nicht mehr von einer Dualität von Sakralem und Profanem gesprochen werden könne. Kennzeichen von Spiritualität seien Distanz zur (kirchlichen) Dogmatik sowie die Vorstellung, dass es jedem Menschen möglich sei, Transzendenzerfahrungen zu machen. Darüber hinaus könne eine Verlagerung von Organisationsstrukturen auf Kommunikationsstrukturen festgestellt werden, wobei (medialen) Netzwerken eine zentrale Rolle in der Entgrenzung und Popularisierung der Religion zukomme. Man könne hier von einer Mediatisierung kommunikativen Handelns sprechen, welches die sozialen Wirklichkeiten schaffe.
JOCHEN SCHMIDT (Paderborn) widmete sich in seinem Vortrag der Fragestellung, ob und inwiefern die Sakralisierung des Selbst aus theologischer Perspektive zu kritisieren sei. In den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte er hierbei den aktuell um sich greifenden „Kult der Authentizität“. Dieser sei insofern problematisch, als dass der „Kult am eigenen Selbst“ keine Differenzierung des Selbst vorzunehmen beabsichtige und folglich keine Kritik an demselben ertragen könne. Allerdings sei gerade auch Kritik am eigenen Selbst notwendig, entspräche doch der Kult der Authentizität nicht einer Arbeit an sich selbst, denn eine solche gäbe es nur bei Widerstand. In den aktuellen Bestrebungen zu mehr Authentizität sei eine Arbeit an sich selbst daher nicht zu finden.
Kritische Reflexionen um den zunehmenden Authentizitätskult stellte ebenso der Theologe WILHELM GRÄB (Berlin) an. Als eine zentrale These formulierte er, dass dieser Kult zunehmend zu einer heillosen Überforderung der Menschen führe, schließlich beuge man sich hierbei dem Druck besonders zu sein, beziehungsweise etwas Besonderes darzustellen, nicht nur, aber gerade auch in den sozialen Medien. Die Frage nach der Authentizität bei der Kuratierung des Lebens unterscheide sich darin, ob etwas authentisch sei, oder lediglich authentisch wirke. Als unbedingtes Motiv dieses Kultes machte Gräb die Anerkennung durch andere aus, die gar als Gradmesser der Lebensqualität fungiere. Seine Argumentation schloss der Referent mit einem Verweis auf das göttliche Rechtfertigungsangebot, also der Anerkennung und bedingungslosen Liebe aller Menschen durch Gott, als möglichen Ausweg aus dieser Konstellation.
CHRISTINE BISCHOFF (Kiel) ging in ihrem Vortrag aus kulturanthropologischer Perspektive der „Konversion als Kuratierung des religiösen Selbst“ nach. Zu Beginn stellte sie die Frage, was unter dem Begriff Kuratierung zu verstehen sei und inwiefern Kuratieren ein brauchbares Konzept für wissenschaftliche Analysen darstellen könne. In Anlehnung an den Schweizer Kurator Hans Ulrich Obrist ging Bischoff von der These aus, dass Kuratieren eine Art menschliches Grundbedürfnis darstelle und das Kuratieren als Praxis eine „art of choosing“ impliziere. Das Konzept des Kuratierens könne dementsprechend auch für andere Lebensbereiche fruchtbar gemacht werden, wie beispielsweise in der Analyse von Formierungen des religiösen Selbst im Zusammenhang mit Konversionen. Auf Basis ihrer empirischen Untersuchungen zu Konversionsgeschichten kam Bischoff zu dem Schluss, dass Konversionen oftmals Selbstthematisierungen seien: Sie seien der Versuch, das Erfahrene zu ordnen und in einem stimmigen Kontext zu bringen; dementsprechend werden sie kuratiert.
Die Germanistin SABINE KYORA (Oldenburg) beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit Praktiken der Autorschaft und dem Zusammenhang dieser Praktiken zu Formierungen und Inszenierungen des Subjekts. Autofiktionale Texte böten sich für eine solche Betrachtung an, weil sie Praktiken der Autorschaft in besonderem Maße reflektierten. Kyora präsentierte den Zusammenhang zwischen religiösen Praktiken, die bestimmte Erzählformen enthalten, und autofiktionalen Erzählpraktiken (im Sinne des zuvor erläuterten Autorschaftskonzepts) anhand der Gegenwartsromane Unterwegs im Namen des Herrn (2011) von Thomas Glavinic und Loslabern (2010) von Rainald Goetz. Glavinic thematisiert eine Pilgerreise und verschiedene Bekehrungsdarstellungen; darin sei eine besondere Faszination für religiöse oder spirituelle Formulierungen zu beobachten. Für Goetz stünden allerdings nicht die religiösen Praktiken im Vordergrund; man könne vielmehr mit Goetz aufzeigen, dass literarische Praktiken eine „Ethik der Schrift“ entfalten, die traditionellreligiöse Narrative subversiv unterlaufen können.
Das Phänomen der Intersexualität wurde von der Literaturwissenschaftlerin SIGRID NIEBERLE (Dortmund) aus diskursgeschichtlicher Perspektive anhand der Aspekte Normierung, Profanisierung und Sakralisierung untersucht. Ausgehend von Judith Butlers Normbegriff erläuterte sie zunächst die Normierungspraktiken um Intersexualität. Der Kampf der Intersexuellen um körperliche Unversehrtheit brächte hier eine neue Norm hervor: das dritte Geschlecht als natürliches. Im gesellschaftlichen und juristischen Diskurs stehe hingegen die Profanisierung von Intersexualität im Vordergrund. Hier käme es durch eine Abkehr von mythschen Konzepten (Stichwort: „Hermaphrodit“) und die Einführung einer dritten Option („divers“) im Personenstandsgesetz dazu, dass Intersexualität nun im gesellschaftlichen Mainstream ankäme. Eine Sakralisierung nähmen Intersexuelle selbst vor, von denen sich viele als Ausdruck der Vielfalt göttlicher Schöpfung begriffen, welche keine Defizite zulasse. Mithilfe dieser Narrative werde von Betroffenen versucht, einen neuen ethischen Rahmen zum Umgang mit Intersexualität zu schaffen.
LOTHAR VAN LAAK (Paderborn) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der Erzählpoetik Patricks Roths und beleuchtete diese aus literaturwissenschaftlicher Perspektive. Im Vordergrund standen hier Roths Techniken der Überlagerung von verschiedenen Erzählschichten, bei denen außerdem unterschiedliche katholische Ikonographien zueinander in Bezug gesetzt werden. Darin sei eine Bewegung von der Selbstreflexion der Bilder zu einer Sakralisierung des Selbst zu beobachten. In der vorgestellten Textanalyse beschäftigte sich van Laak dann mit den Darstellungen von Jesus, Maria und Joseph in Patrick Roths Erzählungen Mulholland Drive: Magdalena am Grab (2003) und Die Verwaisten (Veröffentlichung in Vorbereitung). Dabei war besonders interessant, dass Josephs Arbeit an seinem Selbst in einer Bewegung zwischen Arbeit und Muße eine Annäherung an das Göttliche vollziehe. Der Weg zum „wahren Selbst“ werde in den Erzählungen als ein Weg zum Göttlichen aufgefasst. Die Sakralisierung des Selbst sei dabei bei Roth stets mit einer Bildkritik verknüpft, die sich nicht nur mit katholischer Ikonographie, sondern auch mit Bildern des Unbewussten beschäftige, die van Laak in Verbindung mit der Archetypenlehre von C.G. Jung näher erläuterte.
Abschließend referierte der Theologe JÖRG SCHNEIDER (Tübingen) über die Metapher der Oase der Stille im spirituellen Diskurs, beziehungsweise in diesem Zusammenhang über die marktorientierten Angebote von Klöstern. Inzwischen böten zahlreiche Klöster temporäre Auszeiten an, die es den Gästen ermöglichen sollen, für begrenzte Zeit aus dem (religionsfernen) Alltag auszusteigen. Die inhaltlichen Präsentationen der Programme orientierten sich hierbei in der Regel an Begriffen wie Achtsamkeit, Selbstwahrnehmung und Aufmerksamkeit. Dies entspräche den gegenwärtigen spirituellen Bedürfnissen sowie dem Verlangen des Einzelnen, seine innerhalb der Leistungsgesellschaft dezimierten Energiereserven wieder aufzufüllen. Die Sichtbarkeit des Christlichen spiele dabei eine eher untergeordnete Rolle. Stattdessen gäbe es die Möglichkeit der Inanspruchnahme klassischer Traditionen der Klöster, ohne diese dauerhaft übernehmen zu müssen. Gemäß Schneider könne hier von einer Kulturkritik auf Zeit gesprochen werden, die den Teilnehmenden Entschleunigung und Erholung böte.
Unter den auf der Tagung repräsentierten unterschiedlichen Fachperspektiven kristallisierte sich eine gemeinsame Auffassung heraus: die gegenwärtige Sakralisierung des Selbst ist häufig mit Authentizitätsdiskursen verknüpft. Diese Diskurse stehen im Zusammenhang mit der Frage, was unter einem „wahren“ Ich zu verstehen sei und ob es dieses überhaupt gebe. Dementsprechend wird Authentizität medial und performativ unterschiedlich gestaltet, währenddessen eine Kritik am eigenen Selbst eher vernachlässigt wird. Ebenso ließen sich enge Zusammenhänge zur Singularisierung (Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Frankfurt a. M. 2017) erkennen, welche die Notwendigkeit der Kuratierung des eigenen Lebens und ein Streben nach Anerkennung in den Vordergrund stellt. Hierfür wird, so wurde in den Vorträgen deutlich, nicht nur eine Sakralisierung von Profanem, sondern vor allem auch eine Profanisierung von Religiösem vorgenommen, wobei in Frage gestellt wurde, welche Rolle diese Binarität aktuell noch spielt.
Programm
HUBERT KNOBLAUCH (Berlin): Populäre Religion. Transzendenz, Spiritualität und die doppelte Subjektivierung des Selbst.
JOCHEN SCHMIDT (Paderborn): Sakralisierung des Selbst und Heiligkeit der Person. Überlegungen über Moral, Heiligkeit und Demut im Anschluss an Kant.
WILHELM GRÄB (Berlin): Hauptsache authentisch. Spiritualitätstrends zwischen Selbstinszenierung, Selbstexpression und Selbstinterpretation.
CHRISTINE BISCHOFF (Kiel): Kennen und Bekennen. Konversion als Kuratierung des religiösen Selbst.
SABINE KYORA (Oldenburg): „Unterwegs im Namen des Herrn“? Autofiktionale Texte und ihr Umgang mit religiösen Codes.
SIGRID NIEBERLE (Dortmund): Wie geschaffen werden. Identitätsdiskurse des Intersexuellen.
LOTHAR VAN LAAK (Paderborn): Selbsterforschung als Selbstheilung. Überlegungen zur Erzählpoetik Patrick Roths.
JÖRG SCHNEIDER (Tübingen): Über die Metapher der „Oase der Stille“. Spirituelles „Auftanken“ in der Leistungsgesellschaft als Element der Selbstformung.
Copyright 2019, KIRSTEN FLÖTER; LISA KEIL; KATHRIN LOHSE; LUCAS SAND; ANNABELLE SCHÜLEIN. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).