Was tun mit dem Pragmatismus?! Giovanni Maddalenas Versuch, Peirce zu Ende zu denken
A Review by Fabian Goppelsröder (fabian.goppelsroeder@gmail.com)
University of Chicago
Giovanni Maddalena, The Philosophy of Gesture. Completing Pragmatists’ incomplete Revolution, Montreal/Kingston: McGill-Queen’s Univ. Press 2015. 206 Seiten, kartoniert, 34.95 USD. ISBN: 9780773546134.
Abstract
Mit The Philosophy of Gesture. Completing Pragmatists’ incomplete Revolution schließt der italienische Philosoph Giovanni Maddalena an die zuletzt wichtig gewordene Gestenforschung an und geht zugleich über diese hinaus. In der Folge Charles Sanders Peirce und der Pragmatisten sucht Maddalena mit der ‘vollständigen Geste’ weniger den Körper gegenüber dem Verstand philosophisch aufzuwerten, als das Werkzeug eines genuin synthetischen Denkens zu entwickeln. Auf rund 180 Seiten gelingt ihm eine erste überzeugende Beschreibung des unser Tun und Handeln bestimmenden, nicht-analytischen Wissens.
Review
Schon
seit einigen Jahren lässt sich in den Geisteswissenschaften etwas
beobachten, was man als ‚pragmatische Neuorientierung’ beschreiben könnte.
Fragen des Machens, des Tuns, des Operativen drängen ins Zentrum des
Interesses. Und mit Ihnen die Frage der Geste.
In Philosophie, Kunst-, Kultur- und Sozialwissenschaften hat sich die
Geste als Gegenstand und Begriff etabliert, der in der Lage zu sein
scheint, quer zu klassischen Disziplingrenzen neue Forschungsperspektiven
zu eröffnen. Der umfassende, 2010 von Christoph Wulf und Erika
Fischer-Lichte herausgegebene Band Gesten. Inszenierung, Aufführung,
Praxis (Fink) dokumentiert die breite Aktualität des Themas eindrücklich.
Giovanni Maddalenas The Philosophy of Gesture passt in diesen Trend - und
gibt ihm zugleich einen eigenen Dreh. Statt mit der Geste den Körper
gegenüber dem Verstand aufwerten zu wollen, soll diese Dichotomie als
ganze unterlaufen werden. Ausgangspunkt des Unternehmens bildet die
Philosophie Charles Sanders Peirce; sein wichtigstes Werkzeug das, was
Maddalena ‚complete gesture’ nennt.
Als „true keystone“ (S. 11/12) pragmatischer Philosophie erkennt Maddalena
das Konzept der ‚continuity’. Gegen die kantische Trennug von Wissen und
Realität, Ding-an-sich und Phänomen sei nicht zuletzt Peirce’ Denken auf
die Kontinuität zwischen diesen analytisch getrennten Wirklichkeiten
ausgerichtet (S. 20). Als untrennbares Zusammenspiel von Ideen und Fakten,
Epistemologie und Ontologie rücken Begriff und Phänomen der Erfahrung ins
Zentrum des Interesses (S. 22). Um dem Primat der Kontinuität gerecht zu
werden, ist Pragmatismus damit aber immer auch die Suche nach einem
‚synthetic reasoning’, nach einem durchgängig synthetischen Denken.
Peirce’ ‚abduction’ und John Deweys ‚logic of inquiry’ sind lediglich die
bekanntesten Beispiele dafür, ein der Kontinuität der Erfahrung
entsprechendes rationales Paradigma zu entwickeln. Doch bleiben all diese
Versuche, so Maddalena, unvollendet. Die entwickelten „tools remain
an analytic way to approach synthetic reasoning.“ (S. 30). Es ist dieses
Manko, das zu beheben The Philosophy of Gesture sich anschickt. Ein
großer, geradezu anmaßend scheinender Anspruch für ein Buch von gerade
einmal rund 180 Seiten.
Maddalena ist sich dieser Anmaßung durchaus bewusst. Er wird nicht müde zu
betonen, dass sein Beitrag hier lediglich Anstoß, ein erster Schritt sein
könne. Und doch zeugen gerade die ersten vier Kapitel seines Bändchens von
der genuinen und kreativen Aneignung des Pragmatismus durch den Autor.
Während das synthetische Urteil auf Identität im Wandel baut, ist es
weniger Kollateralschaden als die Stärke des analytischen Denkens, gerade
diese Identität aus den Augen zu verlieren, sie aus seinem Urteil
auszuschließen (S. 43). Seine eigentliche Kraft gewinnt es in der
Aufsplittung der kontinuierlichen Erfahrung in fixe, aus der Situation
gelöste und abstrakt zu verarbeitende Einheiten. Synthetisches Denken
hingegen bleibt durchgängig konkret und zeitgebunden, ein Tun, ein Machen.
Es zerlegt Wirklichkeit nicht retrospektiv in unveränderliche, handhabbare
Elemente, sondern schafft Realität, ist kreativ, gestaltend, projektiv.
Als solches ist es omnipräsent und zugleich kaum zu greifen. „Any
synthetic judgment coincides with the operation we have to perform in
order to get at it.“ (S. 46).
Es gäbe andere philosophische Bezüge, die Maddalena hier zur Unterstützung
seines Arguments anführen könnte. Ludwig Wittgenstein läge nahe, aber auch
Heidegger und manch ein Vertreter der ‚French Theory’. Er bleibt bei
seiner Hauptreferenz Peirce und spezifiziert seine Überlegung in einer
durchaus eigenen Untersuchung dessen Existential Graphs. Statt in ihnen
schlicht die visuelle Notation einer an sich abstrakten Logik zu sehen,
beschreibt Maddalena sie als „synthetic happening of generals.“ (S. 57).
Das Schreiben und Zeichnen dieser Diagramme müsse als Prozess des sich
Ausdrückens eines Universals in einem Singulär erkannt werden. Nur wer
diesen Prozess nachzuvollziehen in der Lage ist, kann mit den Existential
Graphs überhaupt etwas anfangen, an sie anschließen, sie verstehen.
Bei aller Kritik an der Unvollständigkeit von Peirce’ Wende hin zum
synthetischen Denken - seine Diagrammatologie (Sybille Krämer) wird
Maddalena zu einer Art Urszene dessen, was er im zentralen Kapitel seines
Buches als ‚Complete Gesture’ zu fassen und konzeptuell zu verallgemeinern
sucht. Dabei ist Geste hier gerade nicht primär als Körperbewegung
aufzufassen. Maddalena bestimmt sie als „any performed act with a
beginning and an end that carries a meaning (from gero (lt.) = I bear, I
carry on)“ und Bedeutung als „the cluster of conceivable effects of an
experience.“ (S. 69f). Explizit geht es ihm um keine metaphorische
Beschreibung, sondern um ein Werkzeug, ein methodisches ‚tool’, „synthetic
reasoning in our everyday experience“ (S. 69) philosophisch zu
beschreiben. ‚Complete gestures’ sind dabei nicht besser oder schlechter
als ‚unvollständige’. Doch sind sie als Gang von der Vagheit über einen
singulären Akt zum Generellen (S. 68) diejenigen, in welchen sich die
Offenheit und ständige Veränderung unserer Wirklichkeit realisiert. In
‚vollständigen Gesten’ wird Welt – analytisch nicht greifbar – verändert.
Liturgien, öffentliche und private Riten, künstlerische Performances oder
wissenschaftliche Experimente gibt Maddalena als Beispiele (S. 72) und
bleibt damit vor dem Hintergrund der bestehenden Gestenforschung eher
konventionell. Doch ist das, was er anschließend an Peirce und den
Pragmatismus hier entwickelt, nicht einfach Variante einer
Forschungskonjunktur. Wie grundlegend sich die Idee der ‚complete gesture’
als Kern eines anderen (eben nicht-analytischen) Denkens konturiert, lässt
sich in den letzten, Fragen der Kreativität, der Identität, des Schreibens
und der moralischen Erziehung gewidmeten Kapiteln erahnen. Maddalena
gelingt es hier an vielen Stellen, alte Probleme auf andere, neue Weise zu
beleuchten. Dass all dies nicht mehr sein kann als eine erste Übung in
einer neuen Denkbewegung, ist dabei wenig überraschend. The Philosophy of
Gesture funktioniert selbst nur als ‚vollständige Geste’. Als Theorie
bliebe das Buch Fragment.
English Abstract
What
to do with pragmatism?! Giovanni Maddalena’s attempt to complete
Peirceian philosophy
With
The Philosophy of Gesture. Completing Pragmatists’ incomplete Revolution
the Italian philosopher Giovanni Maddalena contributes to the increasingly
importance of late ‘gesture research’ and transcends it at the same time.
Following Charles Sanders Peirce and pragmatist philosophy, Maddalena’s
‘complete gesture’ turns into the tool for genuinely synthetic reasoning.
Over 180 pages he manages to describe convincingly how non-analytic
knowledge perfuses and determines all our doing.
Copyright 2017, FABIAN GOPPELSRÖDER. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).