Jenseits des Gestrigen: Interdisziplinäre Perspektiven auf kulturelle Heimat-Vorstellungen
A Review by Jens Kugele (jens.kugele@gcsc.uni-giessen.de)
International Graduate Centre for the Study of Culture (Giessen)
Costadura, Edoardo und Klaus Ries (Hg.): Heimat gestern und heute – Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld: transcript, 2016. 254 Seiten, kart., 34,99 Euro. ISBN 978-3-8376-3524-9.
Abstract
Die
Beiträge des Tagungsbands Heimat gestern und heute, basierend auf
einem Workshop an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, richten den
Blick auf die vielfältigen Formen und Konjunkturen der kulturellen
Heimat-Vorstellungen. Angelegt in interdisziplinärer Perspektive
versammelt der Band Expert_innen aus den Feldern Musikwissenschaft,
Religionspädagogik, Europäische Ethnologie, Volkskunde, Geschichte,
Rechtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Sozialgeographie und Botanik.
Dank dieses Spektrums bietet der Band zahlreiche wertvolle Anregungen für
ein wachsendes interdisziplinäres und internationales Forschungsfeld, das
sich im Laufe der letzten 20 Jahre entwickelt hat.
Review
Das
Reden von „Heimat” hat Konjunktur – das zeigt neben den aktuellen
migrationspolitischen Diskussionen ein Blick in die deutschsprachige
Literatur seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ebenso wie ein Blick in
rezente Film-, Musik-, Zeitschriften- und Ratgeberpublikationen. Auch im
akademischen Bereich ist in den vergangenen Jahren eine verstärkte
Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema „Heimat” zu beobachten. Das
Forschungsinteresse richtete sich hier besonders auf die mit diesem
Begriff verbundenen, sich wandelnden Konzeptionen von Herkunft,
Zugehörigkeit, Raum und Erinnerung. Daraus entstand in den vergangenen 20
Jahren ein Forschungsfeld, das alsbald disziplinäre und nationale Grenzen
überstieg. Der Band Heimat gestern und heute – Interdisziplinäre
Perspektiven fügt diesem Forschungsfeld einige wertvolle Impulse
hinzu.
Ausgangspunkt der Publikation bildete ein Workshop, der am 7. und 8.
November 2014 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena veranstaltet
wurde und Expert_innen aus den Feldern Musikwissenschaft,
Religionspädagogik, Europäische Ethnologie, Volkskunde, Geschichte,
Rechtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Sozialgeographie und Botanik in
einen Austausch brachte. Der Aufbau des Bands spiegelt in produktiver
Weise die dialogische Grundstruktur der Tagung wider, den jeweiligen
Beiträgen eine eingehende Respondenz folgen zu lassen, und ermöglicht
dadurch die Integration einer großen Anzahl von Blickwinkeln und Ansätzen.
Tatsächlich werden in den Kommentaren oftmals wichtige Aspekte der
jeweiligen Beiträge vertieft, kritische Rückfragen etwa an die verwendeten
Begriffe und zugrundeliegenden Prämissen gestellt und weiterführende
Forschungsfragen formuliert. Angesichts des hohen inhaltlichen Niveaus
einiger Beiträge überraschen kleinere Mängel in der formalen Gestaltung
(einige Inkonsistenzen in der Zeichensetzung; ein unvollständiges
Autorenverzeichnis; der Umstand, dass nur zwei Beiträge ein
Literaturverzeichnis anfügen). Ein gemeinsames Literaturverzeichnis des
gesamten Bandes hätte sich für die Leser_innen durchaus als hilfreich
erwiesen und eine gute Orientierung für eigene Forschungsvorhaben geboten.
Denn gerade die Beiträge aus volkskundlicher, rechtshistorischer,
biologischer, literatur- sowie musikwissenschaftlicher Perspektive greifen
auf einen beeindruckenden Fundus zurück und setzen sich in fruchtbarer
Weise mit einschlägiger Forschungsliteratur aus ihren jeweiligen
disziplinären Kontexten auseinander.
Frank H. Hellwig stellt beispielsweise in seinem Beitrag aus biologischer
Perspektive die Frage, „welche Rolle die Naturdinge in dem spielen, was
wir Heimat nennen“ (S. 83) und legt vor seinem Hintergrund als Botaniker
den Schwerpunkt auf die Vegetation bzw. die Pflanzen. Seine Überlegungen
zum Verhältnis von Mensch, Natur und Kultur reichen dabei von Bezügen
zwischen Naturschutz und Heimatschutz bis hin zur Globalisierung
domestizierter Pflanzen und Vorstellungen von „biologischen Invasionen“
(S. 100) im Naturschutzdiskurs. Kenntnisreich beleuchtet Hellwig dabei
Verschränkungen unterschiedlicher diskursiver Formationen und richtet
einen besonders kritischen Blick auf statische Auffassungen von Natur und
Vegetationsverhältnissen. Eine weitere Vertiefung erfährt dieser kritische
Blick in Manfred Seiferts nuanciertem Kommentar, der Hellwigs Beitrag
zudem durch anregende Reflexionen zum analytischen Heimat-Begriff in der
sozialwissenschaftlichen und volkskundlichen Forschung ergänzt (S.
113ff.).
Eine
ähnlich ungewöhnliche und ebenso anregende Perspektive auf das Themenfeld
„Heimat“ bietet Michael Chizzalis und Christiane Wiesenfeldts
musikwissenschaftlicher Beitrag. Die beiden Autor_innen skizzieren
zunächst den Zusammenhang von Heimat-Vorstellungen und Musik in
unterschiedlichen diskursiven Formationen, um im Anschluss Möglichkeiten
auszuleuchten, ein theoretisch fundiertes Heimat-Konzept für aktuelle
musikwissenschaftliche Fragestellungen nutzbar zu machen (S. 172). Trotz
vielfältiger musikwissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dem Thema
„Heimat“ – insbesondere hinsichtlich pädagogischer, anthropologischer,
soziologischer und historischer Fragestellungen – fungiere „Heimat“
zumeist „als literarische und philosophische Bezugsgröße“ (S. 182).
Jenseits rein textimmanenter Ansätze etwa in der Popularmusikforschung
plädieren Chizzali und Wiesenfeldt für eine stärkere Berücksichtigung von
multiplen Hörerrezeptionen sowie des „mnemokulturelle[n] Potenzial[s] des
Klingenden“ (S. 178), etwa in Verbindung mit Ansätzen aus der reflexiven
musikethnologischen Forschung. Die notwendige Frage nach der
Systematisierung des Heimatbegriffs in der Musik stellt nach Ansicht der
beiden Autor_innen weiterhin ein Desideratum dar. Dabei sehen Chizzali und
Wiesenfeldt großes Potenzial im Heimat-Begriff für die
musikwissenschaftliche Forschung; habe doch die Musik gar einen zentralen
Anteil an der Konstitution von „Heimat“, sofern man den Heimatbegriff als
„ganzheitliche Kategorie“ fasse, in der sich „physikalische Orte,
menschliche Handlungen, Erinnerungen und Emotionen zu einem Amalgam
verbinden, dessen Kommunikations- und Anschlussfähigkeit (auch) medial
definiert ist“ (S. 183).
Gemeinsame Grundlage des abgebildeten Diskussionszusammenhangs im
vorliegenden Sammelband stellen unter anderem Forschungsarbeiten zum Thema
“Heimat” dar, die im Bereich der Kulturwissenschaft, insbesondere der
Volkskunde und der Europäischen Ethnologie entstanden. Ein anderer Bereich
kulturwissenschaftlicher Forschung bleibt dabei allerdings weitgehend
unberücksichtigt; denn der Band nimmt kaum Bezug auf einschlägige
Forschungsarbeiten im (inter)nationalen kulturwissenschaftlichen Feld, die
in den letzten 20 Jahren ausgehend von Celia Applegate und Alon Confino
Aspekten des Heimat-Begriffs in Kultur- und Literatur-, aber auch Film-
und Theatergeschichte nachgingen. Zu den Meilensteinen dieser Forschung
zählen unter anderem die Arbeiten von Celia Applegate (1990), Alon Confino
(1993), Gisela Ecker (1997), Rachel Palfreyman (1997, 2000), Elizabeth Boa
(2000), Peter Blickle (2002), Johannes von Moltke (2005) und Friederike
Eigler (2012, 2014). Eine Auseinandersetzung mit diesen
Diskussionszusammenhängen hätte die zum Teil äußerst anregenden Beiträge
des vorliegenden Bands nicht nur um zusätzliche Reflexionshorizonte
erweitert. Sie hätte auch eine weitere Verknüpfung mit dem Feld der
kulturwissenschaftlich ausgerichteten German Studies gewährleistet
und somit den Brückenschlag zwischen deutsch- und englischsprachigen
Publikationen ermöglicht. Angesichts der Tatsache, dass jedoch umgekehrt
ebenfalls nur wenige Arbeiten aus dem Bereich der Volkskunde und der
Europäischen Ethnologie, geschweige denn aus der Musikwissenschaft
wiederum im Kontext der German Studies rezipiert werden, zählt es
sicherlich zu den künftigen Aufgaben des wachsenden Forschungsfelds, einen
noch stärkeren Austausch zwischen den unterschiedlichen Bereichen
kulturwissenschaftlicher Forschung zu gestalten. Daneben gilt es künftig,
die jeweiligen Arbeiten und Perspektiven untereinander fruchtbar zu machen
und somit weiter an einem Translations-Prozess zwischen den disziplinären
Traditionen und sprachlichen Kontexten zu arbeiten. Die Beiträge des
vorliegenden Bands bieten für künftige Arbeiten dieser Art zahlreiche
wertvolle Ansatzpunkte.
English Abstract
Thinking
Heimat. Interdisciplinary Perspectives
Based
on a research workshop at Friedrich Schiller University Jena, the volume Heimat
gestern und heute features essays and critical responses from a wide
range of disciplines. Scholars of musicology, literary studies,
pedagogy of religion, European ethnology, folklore studies, history, law,
human geography, and botany offer perspectives on changing notions of Heimat.
Due to its broad spectrum, the volume contains often insightful and
valuable contributions to the interdisciplinary and international body of
scholarship that has emerged during the past 20 years.
Copyright 2017, JENS KUGELE. Licensed to the public under Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).